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Das Leben scheint viele Mysterien in sich zu bergen, viele undenkbare Dinge, die sich auf den zweiten Blick als realistisch denkbar entpuppen. So sah der Wortzähler das Leben an. Als ein reales Mysterium. Voller Zufallsketten, Undenkbarkeiten. Seine Fantasie vergrößerte sich, nahm märchenhafte Ausmaße. Die verwirrende Realität wurde ihm bedrohlich, gar verdächtig. Fantasiewolken standen dem Zerplatzen nah, Ideen schmerzten den Kopf. Die Wörter wurden fleißig gezählt. Tag für Tag, Stunde um Stunde, Sekunde um Sekunde, seitdem er sich als Individuum begreifen konnte. Das blieb ihm lange Zeit ein Lebenssinn in der Welt.
Bis dann eines Tages – dunkelheitsverhangen, vernebelt – der Wortzähler seine Messerspitze umarmte, die ihn aus dieser Welt befördern sollte. Er hielt seine Leidensentschädigung fest umschlungen in der Hand, eine seiden-glänzende Messerspitze aus schönem Edelstahl.
Die Kopfschmerzen wurden wirklichkeitsberaubend, die Hand zittrig, die Sicht unscharf, die Zähne verfaulend. Ein paar wenige verschmierte Sätze im Tränenfluss, ein Elendsblatt des Abschieds, die Reise stand an, eine Reise ohne Wiederkehr, ins ungewisse Land. Das Blut tropfte ihm aus dem Zahnfleisch, die Schmerzen zerflossen mit dem Blut, die Messerspitze entglitt seiner Hand, das letzte Werk war vollbracht, es galt nun abzuwarten, die Zeit abzuwarten. Bis auch die Realität zerfloss mit dem Blut und den Schmerzen und die Ohnmacht zur Quelle der Erlösung wurde. Die Sinne entfernten sich allmählich vom Körper, das Licht wurde dunkel vor seinem Angesicht, lediglich ein lauter Piepton war vernehmbar und je leiser der Ton wurde, umso mehr erschlaffte der Herzschlag, bis die Wirklichkeit zur Dunkelheit wurde. Befreiungsakt von pochenden Geistesblitzen, den Ideen seiner Vergangenheit ganz fern. Mentaler Selbstreinigungszustand, Schmerzzufuhr. Ein amputiertes Zahnfleisch in ohnmächtigen Händen.
Von den Gedanken wurde der Wortzähler durch die Dunkelheit geleitet, in rasendem Geistestempo, die einzige Helligkeit waren die Türen, unzählige Türen, die sich rasch hintereinander öffneten, ihr Licht von unbeschreiblicher Helligkeit. Durch jede dieser Tunneltüren sah der Wortzähler einen Lebensabschnitt vorbeiziehen, schnellbewegte Filmaufnahmen von der Vergangenheit, die gestorben ist, vom jungen Ich, das nie wieder jung sein wird, das eigene Leben in der Welt der Materie – ein geistiges Resümee von dem, was einmal war. Jeder Abschnitt wird noch einmal durchlebt, jedes Gefühl wird noch einmal durchfühlt, mit höchstbeschleunigender Sorgfalt, in klarheitsberaubender Schnelligkeit, das ist die Ewigkeit in einem Augenblick…
Erinnerungen verschwinden in die Vergessenheitsskala, dringen nach oben auf die höchsten Rangplätze, letzte Vergangenheitsflecken verblassen ins Nirgendwo, verfliegen mit den vergessenen Schmerzen. Vergessenheit. Ankunft im Nirgendwo vom Irgendwo. Ein Fenster tut sich auf, im Irgendwo vom Nirgendwo, am Ende aller Türen des Tunnels. Und dieses Fenster spuckt Licht heraus, ein ansteckendes Licht, hell aber nicht blendend, sanft aber nicht zudringlich, offenbart das Fenster am Ende des Tunnelganges ein Bild; der Wortzähler erkannte darin seine Zeit, die Zukunft, die bevorstand und er trat auf die andere Seite des Fensters, hinterließ das zurück, das hinter ihm lag, die Vergangenheit. Aber: gab es so etwas überhaupt, so etwas wie eine Vergangenheit oder eine Zukunft oder eine Gegenwart – lebte die Hülle, sein ehemals physischer Körper nicht in unterschiedlichen Zeiten, die Zeit des Augenblicks, des Hochgenusses, die Zeit der Nimmerwiederkehr, wonach er sich in stillen Augenblicken sehnte, die Zeit der Fantasie, der geistesssüßen Tagesträume im einsamen Bett der Nacht – hatte er denn jemals seine Zeit gefunden, die Zeit, die ihm gehörte und nicht der Gesellschaft, die ihn umgab – der Wortzähler lebte in unterschiedlichen Zeiten, jede dieser Zeiten, eine Ausfluchttür von der kalten Realität in warme Gedanken hinein, gefüllt mit Zeitersparnissen.
Und nun leuchtete die Zeit entgegen, die eigene Zeit, ein Fenster tat sich auf, am Ende aller Tunneltüren, ein Fenster, das Licht spuckte, ein ansteckendes Licht, der Wortzähler hatte seine Zeit gefunden, seine Zeit war die Zukunft auf der anderen Seite der Wirklichkeit, die Zukunft, die bereitstand, für ihn, den Wortzähler – er brauchte nur in sie einzudringen. So trat der Wortzähler auf die andere Fensterseite, umarmte die gefundene Zeit, sein liebliches Besitztum, hinterließ das zurück, das hinter ihm lag, die Vergangenheit der mit Unsicherheit gefütterten Zeiten, die unzähligen Türen im Tunnel, der nun zu Nebel wird. Die Zeiten, sie änderten sich schwindend… Nun scheinen sie sich endlich zu einer Einheit zusammengefunden zu haben, einem unsichtbaren Staubknoten gleich, im Scheinfaden des Nebels verstrickt. Die Wirklichkeit, eine gefundene Zeit, andere Fensterseite, meine Zeit, Zeit….
Eine Stimme – im tiefen Inneren durchwühlend – sagte ihm, dass diese Türen das Leben symbolisierten, das Leben, das da hinter ihm lag.
Der Wortzähler konnte sich seiner Ankunft nicht mehr entsinnen. Die Zeit hatte einen Stillstand erlitten. Er war angereist – so schien es ihm – in die Welt der Wörter. Den Blick nach unten gerichtet, die Schritte von den Gedanken geleitet, so betrat er die Welt jenseits der Sinne.
Sie hieß ihm willkommen, die Welt der papiernen Wörter. Überall wo der Wortzähler sie mit dem verzweifelt- liebenden Blick der Schrift durchforstete, fand er seine Leidenschaft wieder. Die Wörter. Eine lieblichpapiernzartduftende Welt der Sprache. Ganze Landschaften, Wiesen, Bäume, umhüllt in die streichelsanftgeschmeidigen Blätter der Schrift. Ein beschrifteter Himmel. Sterne, die nach Buchstaben glänzten. Flüsse aus Tinte. Beschriftete Baumäste, die sich lesbar darboten. Die ganze Welt war eine Geschichte aus Papier. Eine Geschichte, die überall in der Natur stattfand. Er konnte diese Schönheit bereits von der Ferne durchschauen, ohne wirklich in sie eingedrungen zu sein.
Nach einer Weile des regungslosen Anblicks fasste der Wortzähler seinen geistigen Mut zusammen. Ihm blieben keine Verluste mehr übrig, die physische Wirklichkeit war eine ferne Vergangenheit, und obwohl der Abschied frisch war, schien es für den Wortzähler, nie einen Abschied gegeben zu haben. Die Papierwelt bahnte ihn in ihren Duft – je mehr er in sie eintauchte – und alle Vergänglichkeit, alles Leid wurde vergessen. Die physische Lebensgeschichte wurde wegradiert, mit weißer Blendungsfarbe überstrichen, allein der Lebenssinn blieb ihm ein unsterbliches Denkmal seines Selbst. Der Sinn offenbarte sich in dieser Welt der Wörter, die ihre beschriftete Pforte für den Seelenverwandten öffnete, eine Welt, die sich aus Schriftstücken nährte. Sein Lebenssinn. Viele Buchstaben, Wörter, Sätze, Geschichten erwarteten ihn dort – sie warteten darauf von ihm gezählt zu werden, hafteten überall in der Natur herum, einem vegetierenden Eigenleben gleich. Sein Blick sprach ihm die Freude vorzeitig zu, denn die geistigen Augen erreichten die Landschaften aus Sprache, von fernher. Der Wortzähler beschritt den Boden seines Geistes, langsam, bedächtigen Schrittes. Er ging durch die geöffnete Pforte, trat in die Leidenschaft ein.
Angekommen in der Papierwelt, folgte der Wortzähler fortan seiner inneren Stimme; ihm wurden gedankliche Laute vernehmbar, die forderten: sein Blick möge sich auf den frisch gewonnenen Leib richten. Und die Augen erfassten einen Leib aus weißem Papier. Ein Leib, der raschelte und seinen Geist umhüllte, ein Leib, der mit einer Geschichte beschriftet ward, seine eigene Lebensgeschichte. Die Gedanken wurden schmerzhaft bei dieser Erkenntnis. Hatte er noch ein Gesicht, Beine, Arme, eine Identität? Nein, es sei lediglich die Form hiervon übrig, das Urgesicht, die Urform eines menschlichen Körperbaus; der innere Zusammenhalt dieses menschenähnlichen Formgebildes seien jedoch nicht die Organe, sondern papierbestückte Geschichten. Dem Wortzähler gelang es nicht, die eigenen Gedanken zu verstehen, sie zeugten von Verwirrung, ja es war ihm, als wenn seine Gedanken eine Fremdherrschaft im eigenen Selbst übernahmen. Er hörte auf, sich mit der Frage nach der gedanklichen Fremdherrschaft zu belästigen, zu verlockend standen ihm die zahlreichen Wörter, Geschichten vor dem inneren Auge; ihm wurde nur lediglich gewahr, dass die Seele sich seinen Gedanken entfremdete, eigene Wege ging, auf eine hinterlistige Art. Doch wenn nicht die Gedanken das eigene Selbst waren – wer war er dann?
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