»Aber ich hab den Himmel über mir gesehen«
Im November 1942 wurde Elfriede Schneider ins Frauenlager Ravensbrück verlegt. Sie war inzwischen achtzehn Jahre alt, seit einem Jahr in Haft, ohne jeglichen Kontakt nach Hause. » Dann sind mir meine Haare abgeschnitten worden. Das war der zweite Schock. Dann musste ich zum Doktor Rosenthal 9. Der hat mich gefragt: ›Hast du schon mal einen Mann gehabt?‹ Ich sagte: ›Nein.‹ Da hat der mir eine ins Gesicht gehauen. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Ich stand splitternackt vor dem Mann. Da hat er mich noch mal gefragt. Ich hab wieder gesagt: ›Nein.‹ ›Das werden wir ja sehen!‹ Dann kam die Untersuchung. Als ich rauskam, hab ich die anderen nicht wiedererkannt. Die haben alle die Haare ab gehabt. So kam ich auf den Zugangsblock .«
Elfriede Schneider bekam den roten Winkel der politischen Häftlinge und die Nummer 15089. Im Zugangsblock traf sie überwiegend auf Häftlinge mit grünen oder schwarzen Winkeln, die als ›Kriminelle‹ und ›Asoziale‹ eingestuft worden waren. Ihre Erfahrungen unterscheiden sich sehr von denen jener, die direkt nach ihrer Einlieferung in Blocks mit ›Gleichgesinnten‹ kamen. » Da wusste ich noch nicht, was mit mir überhaupt geschieht, und warum, und weshalb ich überhaupt in dem Lager war. Erst dann hab ich gelernt, was für Bestien die Frauen waren, die dort lebten. Vor den Häftlingen hab ich wirklich Angst gekriegt, denn so was Brutales von Frauen, so was Kaltes von Menschen hab ich noch nie gesehen. Nachdem ich die Nummer hatte, durfte ich auch schon mal raus auf die Lagerstraße. Das war für mich wie eine Freiheit, obwohl ich eingesperrt war, aber ich hab den Himmel über mir gesehen. Das Lager war groß, riesig – und ein Haufen Menschen. Ich konnte mich mit einzelnen Frauen unterhalten. Die haben mich empfangen: ›Warum bist du da? Was hast du gemacht?‹ Dann ging’s halt ans Erzählen .«
Freundschaft und Zahnpasta
Elfriede Schneider kam anschließend auf Block 5, zur Stubenältesten Minna Rupp 10, die wie Elfriede aus Schwaben stammte und das junge Mädchen sogleich in ihre Obhut nahm. » Sie nahm mich auf ihre Blockseite und sagte: ›Wenn’s geht, leg dich nach oben.‹ Da war es noch nicht so überfüllt, da hat jede noch ihr eigenes Bett gehabt, auch noch karierte Überzüge. Wir mussten morgens um fünf raus und Appell stehen, ob es geregnet hat oder nicht. Jemand hat mich aufmerksam gemacht: ›Wenn’s geht, stell dich nie nach vorne in die erste Reihe. Wenn du hinten stehst, kannst du dich ein bisschen bewegen.‹ Vorne musste man immer strammstehen. Ich ging immer als die Letzte aus dem Block raus, hab immer geschaut, dass ich nach hinten kam. Ich hab es immer verstanden, mich zu drücken. Aber da hat mir auch die Blockälteste viel geholfen .«
Elfriede Schneider wurde verfügbare Arbeiterin und musste Schwerstarbeit leisten; für das junge, zart gebaute Mädchen kaum auszuhalten. Sie wurde krank und konnte – dank Minna Rupp – ein paar Tage auf dem Block bleiben. » Eines Tages fragte sie: ›Hast du Schreibgenehmigung?‹ Ich wusste es nicht, und sie versprach, es herauszufinden .«
Die Freude war übergroß, als Elfriede Schneider erfuhr, dass sie nach Hause schreiben durfte. » Sie hat mir Schreibpapier gebracht, aber gleich gesagt, dass ich nicht schreiben darf, was hier drin vorgeht, sondern nur meine Wünsche und weiter nichts. Ich hab zuerst an meine Tante Sophie geschrieben, dass ich mich in einem Lager befinde. Sie soll sich keine Sorgen machen, mir gehe es sehr gut. Ich bin wohlauf. Wenn es geht, soll sie mir doch bitte Zahnpasta, Zahnbürste und Seife schicken. Nach vierzehn Tagen, abends, als ich von der Arbeit kam, sollte ich zur Paketausgabe. Ich musste über die Lagerstraße auf die andere Seite, und da ist meine Nummer aufgerufen worden, dann hab ich mein Paket empfangen. Als ich zurückkam auf den Block, fragte die Blockälteste gleich, was ich bekommen habe, und hat mich in ihr Zimmer reingeholt. Ich sagte ihr, das und das und das, und sie fragte: ›Brauchst du die Zahnpasta?‹ Selbstverständlich brauchte ich sie. Da hat sie gesagt: ›Wenn du wieder schreibst, kannst du dann Zahnpasta für mich schicken lassen?‹ So hab ich die Blockälteste und auch die Stubenälteste auf meine Seite gezogen, meine Freundschaften gekauft und Vergünstigungen gehabt. Von solchen Freundinnen konntest du genügend haben. Aber echte Kameradschaft, wo du sagen kannst, mit der gehst du durch dick und dünn, das hat lange gebraucht, bis ich so was gefunden hatte. Erst viel später hab ich zwei Berliner kennen gelernt, Zwillinge, Sabine und Ursula. Das weiß ich noch wie heute, zwei Blonde. Mit denen hab ich wirklich eine dicke Freundschaft gehabt. Wir haben uns alles geteilt. Die hatten von zu Hause nichts .«
Ein halbes Jahr später wurde Elfriede Schneider zur Arbeit in die Luftmunitionsanstalt Fürstenberg (Luftmuna) geschickt. »Das war ein unterirdisches Lager. Da sind Häftlinge runtergekommen, die haben nie mehr die Freiheit gesehen. Da unten haben sie Granaten, Bomben und alles Mögliche gebaut, und was nach draußen kam, das mussten wir verladen .«
Es war wie ein Hohn für sie, jetzt doch für die Rüstung arbeiten zu müssen. Die Arbeit war schwer, und gleichzeitig wurden die Lebensbedingungen im Lager immer unerträglicher. » Wenn wir abends reinkamen, abgeschafft und todmüde, musstest du um dein Essen kämpfen. Wenn du dich umgedreht hast, war die Schüssel weg. Wehe, du hast sie weggestellt. Dann war sie geklaut. Genauso mit meinen Paketen, wenn ich die dagelassen hätte, ich hätte nichts wiedergefunden. Wenn ich ein Paket hatte, trug ich das zur Blockältesten rein, bevor ich zur Arbeit ging. Abends hab ich mir das wiedergeholt und dann verteilt. Du konntest ja nicht alleine essen und die anderen zuschauen lassen. Jetzt waren wir auch schon zu zweit im Bett. Ich wollte mich zu keiner Frau ins Bett legen. Ich hab mich gesträubt. Trotzdem musste das so gemacht werden. Die Betten waren so eng beieinander, und so musste ich zusehen, was die nebendran getrieben haben. Ich ging zur Blockältesten: ›Ich halt das nicht mehr aus.‹ Doch auch die sagte, ich soll mich nicht so anstellen. Die haben gelacht und haben’s noch ärger getrieben, um mich zu ärgern .«
Kartoffeln und Zigeunerkinder
Elfriede Schneider wurde immer geschickter darin, die Blockälteste zu bestechen, und erreichte, dass sie ihr Bettruhe verordnete, sodass sie sich tagsüber ausschlafen konnte. Nach anderthalb Jahren im Lager kam sie zur Arbeit in die Küche. Gemeinsam mit Kindern musste sie Kartoffeln schälen und sah, welchen Hunger die Kinder litten. » Die Kinder haben geweint vor Hunger, haben die Mülleimer durchgewühlt. Da hab ich ihnen was abgegeben .«
Mit ihren Freundinnen erkundete sie, dass die Kinder aus dem ›Zigeunerlager‹ kamen, zu dem niemand Zutritt hatte. » Zu fünft haben wir ausbaldowert, wie wir ihnen helfen können. Eine war bei der Lagerpolizei. Ihre Warnungen, was passiert, wenn sie uns erwischen, hab ich nicht wahrhaben wollen. Ich hab einfach die Angst nicht gehabt. Am Tag haben wir einen ganzen Kübel Kartoffeln verschwinden lassen. Der war plötzlich weg, und es ist ja auch in dem Betrieb gar nicht aufgefallen. Dann haben wir bei Nacht den Kübel ins Zigeunerlager geschafft. Das hat mehrmals gut geklappt .«
Die Lagerpolizistin forderte eines Tages die Seife aus Elfriedes Paket für ihr Schweigen, doch die war bereits der Blockältesten versprochen. » Dann ist die hergegangen und hat uns tatsächlich verraten. Wegen einem Stückchen Seife! Da wurde morgens beim Appell meine Nummer aufgerufen, zum Kommandanten musste ich vor. Bin ich rein, und hab ich mich gemeldet: ›Fünfzehnnullneunundachtzig meldet sich zur Stelle!‹ Was mir eingefallen sei, warum ich das gemacht hätte? Ich sagte: ›Weil die Kinder Hunger haben.‹ Das hätte ich schon nicht sagen dürfen. Die Zigeunerinnen haben nix zu verlangen, das sind keine Menschen. ›Ab in den Zellenbau!‹ Es gab drei Tage Essensentzug, und ich musste immer auf dem kalten Zementboden liegen. Nach acht Tagen da drin war ich so richtig zermürbt. Dann musste ich wieder zum Kommandanten. Der hat nur gesagt: ›Fünfundsiebzig Stockschläge!‹ Ich wusste von vielen, die Stockschläge bekommen hatten. Da ging mir aber das Zäpfchen runter, als ich das gehört hab .«
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