So muss es an dieser Stelle genügen, ein kurzes Panorama der historischen Entwicklung am Beginn des zweiten Borgia-Pontifikats zu zeichnen – mit der Vorbemerkung, dass der Name Borgia seinen unheimlichen, schließlich geradezu apokalyptischen Klang 12erst nach einigen Jahren und vollends in der zweiten Hälfte des elfjährigen Pontifikats gewann. Bei seinem Amtsantritt war einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, dass er als Kardinal und Vizekanzler der römischen Kirche, also als Stellvertreter von fünf Päpsten, eine Reihe von Kindern gezeugt und die vier prominentesten von diesen, Cesare, Lucrezia, Jofré und Juan, notariell als seine Sprösslinge anerkannt hatte. Das war für wertkonservative Theologen ein Zeugnis abgrundtiefer Unmoral, aber in den Augen jüngerer Kardinäle und breiter Kreise allenfalls eine lässliche Sünde. Darüber hinaus erwarb er sich in den mehr als dreieinhalb Jahrzehnten seines Kardinalats den Ruf eines gewieften und oft auch skrupellosen Diplomaten mit ausgezeichneter Kenntnis der europäischen Mächtelage und des kurialen Apparats. Die Prognosen zu seinem Herrschaftsantritt waren daher durchaus nicht eindeutig – die meisten Beobachter erwarteten einen theologisch und kirchenpolitisch konservativen Pontifikat nach dem Vorbild Calixtus’ III.: eine Betonung des päpstlichen Primats gegenüber den weltlichen Herrschern, Anstrengungen für einen neuen »Kreuzzug« und Stärkung der Inquisition, allerdings verbunden mit dem Bestreben, der Familie Borgia eine unabhängige fürstliche Stellung in Italien zu verschaffen. Was sich ab 1497 dann tatsächlich abspielte, sprengte den Vorstellungs-Horizont der Zeit völlig auf.
Dass des Prez eine Zeitlang im Rom der Borgia blieb, dürfte wiederum ebenso wie sein Ausscheiden im Jahr 1495 mit der Stellung zusammenhängen, die sein Patron Ascanio Maria Sforza zu Beginn des neuen Pontifikats einnahm. Diese Position war, wie vorhergesagt, so stark, dass sie den Handlungsspielraum des Borgia-Papstes sehr weitgehend einschränkte, ja diesen sogar in vieler Hinsicht zum Befehlsempfänger des Hauses Sforza herabdrückte. 13Dessen Politik zielte mehr denn je auf die Vernichtung der aragonesischen Dynastie in Neapel ab, was ohne die Intervention einer auswärtigen Großmacht kaum zu bewerkstelligen sein konnte. Diese Strategie verfolgten Ludovico Sforza, der den nominellen Herzog immer weiter zurückdrängte und völlig entmachtete, und sein Bruder Ascanio Maria ab dem August 1492 in konzertierter Aktion bzw. aus der Perspektive des neuen Papstes betrachtet mit einer erpresserischen Zangengriff-Strategie. Alexander VI. fürchtete nichts mehr als eine Intervention der Großmächte Spanien oder Frankreich, von der er Prozess und Absetzung befürchten musste. V. a. ein militärisches Eingreifen Frankreichs war das Menetekel, das die beiden Sforza stets aufs Neue an die römischen Mauern malten – und an die neapolitanischen: Der ab 1483 regierende König Karl VIII. von Frankreich erhob als Rechtsnachfolger des Hauses Anjou Ansprüche auf das Königreich Neapel. Sollte er sich zu einem Heereszug in Richtung Vesuv entschließen, würde er damit das Gleichgewichts-Gefüge Italiens endgültig aufbrechen.
Zwei Jahre lang spielten Ludovico und Ascanio Maria diese Karte in ihrem Machtpoker mit Alexander VI. stets aufs Neue aus, und zwar mit Erfolg. Der Papst musste zähneknirschend in eine Tripelallianz mit Mailand und Venedig eintreten, die gegen Neapel gerichtet war und ausdrücklich für einen Beitritt Frankreichs offengehalten wurde. Und in der Ewigen Stadt folgte eine Demütigung nach der anderen. Der Tiefpunkt war erreicht, als Lucrezia Borgia im Juni 1493 mit Giovanni Sforza, dem Herrn von Pesaro, aus einer Nebenlinie der Dynastie verheiratet wurde, obwohl ihr Vater weit höhere Pläne für seine Lieblingstochter hegte. Ascanio Maria Sforza war der wahre Herrscher Roms und der Papst sein Kaplan, so konnte man es an den Spottsäulen der Stadt in satirischen Gedichten nachlesen. Auch in Mailand stellte sich auswärtigen Beobachtern die Herrschaft der Sforza gefestigter denn je dar. Ludovico il Moro hatte sein seit Längerem angebahntes Tauschgeschäft mit dem römischen König Maximilian erfolgreich abgeschlossen: Der Habsburger heiratete Ludovicos Nichte Bianca Sforza und erhielt für diese nach aristokratischen Kriterien krasse Mesalliance die stolze Mitgift von 400.000 Dukaten; seine Gegenleistung bestand darin, Ludovico den Titel eines Herzogs von Mailand als Nachfolger seines Neffen Gian Galeazzo zu verleihen. So schien die Familie Sforza das Schicksal Italiens in der Hand zu halten. Des Prez durfte sich mehr denn je zur Wahl seines Patrons und Protektors gratulieren.
Doch mit der französischen Intervention zu drohen, war das eine, sie wahr werden zu lassen, das andere. 14Im Spätsommer 1494 hatten das Drängen Kardinal Giuliano della Roveres, der am französischen Hof im Exil lebte, und das Anstacheln Ludovico Sforzas schließlich Erfolg: Der französische König setzte sich mit dem für damalige Verhältnisse gewaltigen Heereszug von 40.000 Mann nach Italien in Bewegung. In Mailand traf er mit seinem Alliierten Ludovico zusammen, wo der Schattenherzog Gian Galeazzo just zum rechten Zeitpunkt, höchstwahrscheinlich durch Gift, starb, um seinem Onkel Ludovico den Weg zur feierlichen Krönung zum Herzog freizumachen. Im November lieferte ihm Piero de’ Medici in vorauseilendem Gehorsam Festungen am Nordrand des florentinischen Herrschaftsgebiets aus, was seinen Sturz und den Aufstieg des politisierenden Bußpredigers Girolamo Savonarola zu maßgeblichem Einfluss auf die jetzt aus der Taufe gehobene Republik zur Folge hatte, in der sich das Patriziat die Macht mit dem Mittelstand zu teilen hatte.
Am Ende des Umsturz-Jahres 1494 erreichte die französische Armee Rom, in das sie kampflos einziehen konnte, da Alexander VI. auf aussichtslosen bewaffneten Widerstand verzichtete. Damit war der Tiefpunkt seiner Macht und das Maximum an Sforza-Dominanz erreicht. Doch diese Verhältnisse kehrten sich rasch um. Die Entourage Karls VIII. riet diesem dringend davon ab, ein Verfahren zur Absetzung des Papstes zu initiieren. Stattdessen begnügte sich dieser mit einem Unterwerfungsvertrag, in dem der Pontifex maximus demütigende Zugeständnisse, zum Beispiel die Auslieferung Cesare Borgias als Geisel an den König, machen musste. Alle diese Klauseln waren kurz darauf nicht mehr das Papier wert, auf dem sie standen. Der französische Monarch zog nach Neapel weiter, das er gleichfalls ohne größeren militärischen Widerstand einnahm; auf dem Weg dorthin war ihm seine Geisel abhandengekommen, die Familie Borgia im Vatikan also wieder vollständig. Kurz darauf musste Karl VIII. sein neues Königreich am Vesuv wieder verlassen und wurde danach bis zum Sommer 1495 von einer nahezu gesamtitalienischen Koalition aus Italien zurückgedrängt.
Damit kehrten sich die Machtverhältnisse in Rom um. Von jetzt an saß Alexander VI. am längeren Hebel, und sein Vizekanzler Ascanio Sforza war persona non grata am Tiber. Die Logik des Patronageverhältnisses spricht dafür, dass Josquin des Prez 1495 die Ewige Stadt an der Seite seines jetzt aufs Höchste gefährdeten Protektors verließ, der ihm dort keinen Schutz und erst recht keine Förderung mehr zukommen lassen konnte. Ebenso logisch war es, mit diesem nach Mailand zurückzukehren, wo die Herrschaft der Sforza nach der Allianz mit dem Haus Habsburg weiterhin gefestigt zu sein schien. Es ist nochmals zu betonen, dass eine kausale Querverbindung zwischen den erregenden und folgenreichen Zeitereignissen und dem päpstlichen Musiker Josquin des Prez nicht sicher herzustellen ist. Wie er das Rom der frühen Borgia-Jahre wahrgenommen und darauf reagiert hat, bleibt Vermutung, ja Spekulation. Auch daraus, dass er in der Folgezeit trotz seines stetig gewachsenen Rufes nicht nach Rom zurückkehrte, lassen sich keine weiterreichenden Schlussfolgerungen ziehen. Denn ein solches comeback – wenn es denn überhaupt angestrebt wurde – war durch den Machtwechsel, der sich am 1. November 1503 in der Ewigen Stadt vollzog, ausgeschlossen. An diesem Tag erlangte mit Giuliano della Rovere der lebenslange Hauptfeind Ascanio Maria Sforzas für knapp zehn Jahre die Tiara; diese Gegnerschaft musste sich automatisch auf die Angehörigen von dessen Haushalt übertragen, sowenig ein Musiker wie des Prez auch mit der großen Politik zu schaffen hatte. Trotzdem war auch für ihn ein erneuter Aufenthalt am Tiber nicht ratsam – der neue Pontifex maximus ging mit greisenhaftem Furor daran, im gesamten Kirchenstaat und darüber hinaus alte Rechnungen zu begleichen, und scheute sich nicht, an der Spitze einer eigenen Armee zur Wiederherstellung seiner Ehre ins Feld zu ziehen. 15
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