Damit soll nicht gesagt sein, dass es an Spezialforschungen zu Josquin fehle, das Gegenteil ist wohl eher Fall. Der vorliegende Sonderband verfolgt auch deswegen ein anderes, generelles Interesse, nämlich das Besondere der Musik Josquins mit dem Allgemeinen der Geschichte dialektisch zu verschränken. Deshalb hebt er mit drei einleitenden Aufsätzen zur Geschichte, Kunst- und Musikgeschichte der Josquin-Zeit an, denen Aufsätze zu den Messen, Motetten und Chansons folgen. Die vorgenannten Gattungen werden insofern heuristisch verstanden, als sie nicht gegeneinander abgegrenzt, sondern durch übergreifende Topoi, die zum Beispiel der Frömmigkeits- und Religionsgeschichte entstammen, miteinander verbunden und in dem Bestreben, einerseits ihre Eigenarten zu erkennen, andererseits zugleich entgrenzt werden. In summa geben die Aufsätze ein sehr eindrucksvolles, wenn auch längst nicht vollständiges Bild der deutschsprachigen Josquin-Forschung unserer Zeit, die sie spiegeln.
Den Beschluss bildet ein richtungsweisender Aufsatz Ludwig Finschers (1930–2020), 3 1 Ludwig Finscher, Art. »Josquin des Prez, Ruhm und Nachruhm «, in: MGG Online , hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel – Stuttgart – New York 2016 ff., zuerst veröffentlicht 2003, online veröffentlicht 2016, unter: https://www.mgg-online.com/mgg/stable/46144 . — 2 Zit. nach Finscher, ebd. — 3 Ludwig Finscher, »Von Josquin zu Willaert – ein Paradigmenwechsel?«, zuerst erschienen in: Musik/Revolution. Festschrift für Georg Knepler zum 90. Geburtstag , hrsg. von Hanns-Werner Heister, Bd. 1, Hamburg 1996, S. 145–173. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Renate Finscher, Wolfenbüttel, sowie Rolf von Bockel/von Bockel Verlag, Neumünster.
dessen Andenken dieser Band gewidmet ist.
Allen beteiligten Autoren, nicht zuletzt Laurenz Lütteken und Klaus Pietschmann, danke ich sehr, dass dieser Sonderband zum 500. Todesjahr von Josquin des Prez entstehen konnte.
Ulrich Tadday
1Ludwig Finscher, Art. »Josquin des Prez, Ruhm und Nachruhm «, in: MGG Online , hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel – Stuttgart – New York 2016 ff., zuerst veröffentlicht 2003, online veröffentlicht 2016, unter: https://www.mgg-online.com/mgg/stable/46144. — 2Zit. nach Finscher, ebd. — 3Ludwig Finscher, »Von Josquin zu Willaert – ein Paradigmenwechsel?«, zuerst erschienen in: Musik/Revolution. Festschrift für Georg Knepler zum 90. Geburtstag , hrsg. von Hanns-Werner Heister, Bd. 1, Hamburg 1996, S. 145–173. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Renate Finscher, Wolfenbüttel, sowie Rolf von Bockel/von Bockel Verlag, Neumünster.
VOLKER REINHARDT
Josquin des Prez in Italien
Macht, Hof und Kultur in Mailand, Rom und Ferrara
Die Angaben und Daten zu Josquin des Prez’ Aufenthalten in Italien sind lückenhaft, nicht immer eindeutig und teilweise umstritten. 1Einige Fixpunkte sind gleichwohl durch verlässliche Dokumente gesichert. Auf diese Weise lässt sich trotz aller Lücken und Unsicherheiten aus der Sicht des Historikers zweierlei nachzeichnen: zum einen ein elementares Geflecht aus Patronage und Anstellung, durch das der große Musiker in der Gesellschaft und zumindest partiell auch im politischen Gefüge der Zeit platziert und positioniert ist und durch das seine Relevanz für Selbstdarstellung und Mächtige der Zeit hervortritt, und zum anderen ein Zeithintergrund aus Protagonisten und historischen Ereignissen, vor den dieses Wirken zu stellen ist. Wie des Prez beides wahrnahm und bewertete, wie er darauf reagierte und ob bzw. in welcher Weise er diese Eindrücke als Zeitzeuge in seinem Werk verarbeitete, muss hingegen aus dieser Perspektive reine Spekulation bleiben und kann allenfalls der Musikologie als Deutungsaufgabe überantwortet werden.
In der Forschung unstrittig ist, 2dass Josquin des Prez bei seinem ersten Erscheinen in Italien in den Jahren 1484 und 1485 als Klient des Kardinals Ascanio Maria Sforza auftritt. Wie eng und dauerhaft dieses Verhältnis in den nachfolgenden anderthalb Jahrzehnten danach blieb, darüber gehen die Meinungen aufgrund lückenhafter Überlieferung weit auseinander. Nach Auswertung aller bis heute bekannten Dokumente wird hier davon ausgegangen, dass die damit geschlossene Beziehung zum wechselseitigen Nutzen bis zur Katastrophe des Hauses Sforza in den Jahren 1499/1500 funktional intakt blieb, auch während des Prez’ Tätigkeit an der päpstlichen Kapelle.
Solche Protektion hatte ihren Preis: Der Gefolgsmann ( creatura ) hatte seinem Protektor ( padrone ) treue Dienste und Unterstützung in allen Lebenslagen zu leisten und v. a. dessen Rang und Ehre zu vermehren. Alles spricht dafür, dass des Prez diese Aufgaben getreulich wahrgenommen hat. Dass er danach, wie zu vermuten, zum Sieger, König Ludwig XII., überging, der Ascanios Marias Bruder, Herzog Ludovico »il Moro«, stürzte und gefangen nahm, ist nicht als Verstoß gegen das komplexe, schriftlich nie verbindlich fixierte Regelwerk klientelärer Beziehungen zu betrachten – mit dem Untergang des Patrons, der keine Förderung mehr zu liefern vermochte, erloschen auch die Pflichten der »Kreatur«. Des Prez’ Mailänder »Hofgenosse« Leonardo da Vinci hielt es ähnlich; auch er arbeitete später für den Sieger und sandte dem gestürzten Herrscher sogar noch einen hämischen Nachruf hinterher. 3
Dass des Prez 1484 auf Kardinal Ascanio Maria Sforza 4setzte, zeugte von intimer Kenntnis der italienischen Politiklandschaft, gepaart mit Risikobereitschaft. Diesem war erst kurz zuvor, im März desselben Jahres, der Purpur verliehen worden, und zwar, wie fast immer in der Regierungszeit Papst Sixtus’ IV. della Rovere (1471–1484), aus rein politischen Opportunitäts-Gründen. 5Der Pontifex stammte aus bescheidenen Verhältnissen einer ligurischen Provinzstadt und hatte es im Franziskanerorden bis zu dessen General gebracht, neben dem Eintritt in die Klientel eines einflussreichen padrone nahezu der einzig beschreitbare Weg nach oben in einer Zeit, in der sich die Elitenverhältnisse dauerhaft verfestigten. Seine für die politischen Beobachter der Zeit überraschende Wahl zum Papst verdankte der kuriale Außenseiter nach neuesten Forschungen 6einem Interessenverbund, der sich aus den versprengten Anhängern des 1477 auf dem Schlachtfeld von Nancy von den Schweizern getöteten Herzogs von Burgund, der Herrscherfamilie Gonzaga in Mantua und v. a. der in Mailand regierenden Sforza-Dynastie zusammensetzte. Dieser schuldete er nach dem an der Kurie tief verinnerlichten pietas -Gebot lebenslangen Dank, den er mit der Erhebung Ascanio Maria Sforzas kurz vor seinem Tod zum letzten Mal abstattete.
Mit dem Anschluss an diesen durfte Josquin des Prez also auf gewichtige Vorteile hoffen. Für ihn als Kleriker dürfte die Nähe zur Kirchenspitze und damit zur Bestätigung und Vergabe lukrativer Pfründen wichtig gewesen sein. Solche Benefizien wurden – sofern sie der Papst verteilen konnte – nach einer Reihe von Prinzipien vergeben: An erster Stelle standen Status, Rang, Gewicht und Einfluss des Fürsprechers, also des Patrons; danach kam es auf die Schnelligkeit der Eingabe (Supplik) und das im entscheidenden Moment richtige Wort an die Adresse des Papstes an; die Eignung durch sittlichen Lebenswandel und berufliche Qualifikation trat demgegenüber weit zurück. Nach all diesen Kriterien war Ascanio Maria Sforza erste Wahl, zumindest solange, wie der Della Rovere-Papst regierte. Als dieser im August 1484 das Zeitliche segnete, änderte sich die Situation allerdings grundlegend. Im nachfolgenden Konklave standen sich zwei Parteien in einer unversöhnlichen Konfrontation gegenüber, die sich in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einem Dauerkonflikt erweitern sollte, der des Prez’ Aufenthalt in Italien wesentlich mitbestimmte. 7
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