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Zukünftigrichtet sich die Durchführung klinischer Prüfungen mit einwilligungsunfähigen Personen nach Art. 31 der VO (EU) Nr. 536/2014 und § 40b Abs. 4 AMG n.F.Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass die VO (EU) 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln auch die gruppennützige Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Personen[255] unter bestimmten, sehr restriktiven Voraussetzungen für zulässig erklärt. Neben der Beachtung der auch für eigennützige Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen geltenden Anforderungen[256] verlangt Art. 31 Abs. 1 VO (EU) 536/2014 in lit. g ii für die gruppennützige Forschung kumulativ, dass die klinische Prüfung im direkten Zusammenhang mit dem lebensbedrohlichen oder zu Invalidität führenden klinischen Zustand steht, unter dem der einwilligungsunfähige Prüfungsteilnehmer leidet, und dass die Prüfung diesen im Vergleich zur Standardbehandlung nur einem minimalen Risiko und einer minimalen Belastung[257] aussetzen darf. § 40b Abs. 4 S. 2 AMG n.F. stellt darüber hinaus klar, dass der Wunsch einer nicht einwilligungsfähigen Person, nicht an einer klinischen Prüfung teilzunehmen, unabhängig davon zu respektieren ist, ob er verbal oder nonverbal zum Ausdruck gebracht wurde.[258] Der deutsche Gesetzgeber hat überdies von der in Art. 31 Abs. 2 VO (EU) 536/2014 eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, strengere Regelungen für gruppennützige klinische Prüfungen mit einwilligungsunfähigen Personen zu erlassen, und deren Durchführung in § 40b Abs. 4 S. 3 AMG n.F. davon abhängig gemacht, dass die betroffene Person im Zustand der Einwilligungsfähigkeit und Volljährigkeit eine Vorausverfügung für den Fall des Eintritts der Einwilligungsunfähigkeitgetroffen hat.[259] In diesem Fall hat der Betreuer zu prüfen, ob die in der Vorausverfügung enthaltenen Festlegungen auf die aktuelle Situation zutreffen (§ 40b Abs. 4 S. 4 AMG n.F.); Anforderungen an die Aufklärung der betroffenen Person werden in § 40b Abs. 4 S. 7 und 8 AMG n.F. normiert.[260] § 40b Abs. 4 S. 9 AMG n.F. stellt klar, dass bei Minderjährigen, für die nach Erreichen der Volljährigkeit die Regelungen für nicht einwilligungsfähige Erwachsene gelten würden, gruppennützige klinische Prüfungen nicht durchgeführt werden dürfen.[261] Gleiches gilt für Personen, die (z.B. aufgrund einer von Geburt oder Kindheit an bestehenden geistigen Behinderung) bereits vor Erreichen der Volljährigkeit einwilligungsunfähig sind und die Einwilligungsfähigkeit auch später nicht erlangen, da sie zur Aufstellung einer in diesem Zusammenhang beachtlichen Patientenverfügung nicht in der Lage sind.[262]
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Ein Verstoß gegen die in § 41 Abs. 3 AMG konkretisierten Voraussetzungen der klinischen Prüfung mit Einwilligungsunfähigen kann neben einer Strafbarkeitnach den §§ 223, 229 StGB auch eine solche gemäß § 96 Nr. 10 AMG nach sich ziehen; bei fahrlässigem Verstoß droht gemäß § 97 Abs. 1 Nr. 1 AMG eine Ahndung als Ordnungswidrigkeit.[263] Zukünftig findet insofern § 96 Nr. 11 AMG n.F. Anwendung; dieser kriminalisiert Verstöße gegen Art. 31 Abs. 1 der VO (EU) 536/2014 (der zu diesem Zweck in § 40b Abs. 4 S. 1 Nr. 1 AMG n.F. in Bezug genommen wird[264]) sowie gegen § 40b Abs. 4 S. 2, 3 und 9 AMG n.F. Fahrlässige Verstöße gelten auch weiterhin gemäß § 97 Abs. 1 Nr. 1 AMG als Ordnungswidrigkeit.
a) Eigennützige Forschung im Rahmen einer Notfallsituation
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In Rahmen von Notfallsituationen, die durch „Elemente der Überraschung, der Plötzlichkeit, des Unvorbereitetseins und der Unvorhersehbarkeit“[265] geprägt sind, kann eine umfassende Aufklärung des Probanden, wie sie das Gesetz in § 40 Abs. 2, 2a AMG für klinische Prüfungen mit Arzneimitteln (und in § 20 Abs. 1 S. 4 Nr. 2 MPG a.F. sowie nunmehr in Art. 62 Abs. 4 lit. f, 63 der Medizinprodukte-VO [EU] 2017/745 für solche mit Medizinprodukten) vorsieht, aufgrund des bestehenden Zeitdruckes schwierig oder sogar ausgeschlossen sein.[266] Überdies können Notfallpatienten durch Bewusstseinseintrübungen oder starke Schmerzen an der Abgabe einer (wirksamen) Einwilligung in die Behandlungsmaßnahme gehindert sein.[267] Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob für die Erprobung eines neuen Arzneimittels im Rahmen einer Notfallsituation auf die Einwilligung einer anderen Person zurückgegriffen oder die versuchsweise Behandlung gar ohne aktuelle Einwilligung des Betroffenen durchgeführt werden kann.[268]
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Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass Notfallmaßnahmen häufig nicht den Charakter einer klinischen Prüfung i.S.d. § 4 Abs. 23 S. 1 AMG aufweisen, sondern (ausschließlich) als individueller Heilversuch einzuordnen sein werden, dessen Bewertung sich nach den allgemeinen Vorschriften des BGB und des StGBrichtet ( Rn. 31 ff.).[269] Im Anwendungsbereich des AMG besteht bislang mit § 41 Abs. 1 S. 2 AMG eine Sonderregelung, die bestimmt, dass eine Behandlung, die ohne Aufschub erforderlich ist, um das Leben der betroffenen Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern, umgehend erfolgen darf, wenn die Einwilligung wegen einer Notfallsituation nicht eingeholt werden kann. In diesem Fall ist die Einwilligung zur weiteren Teilnahme gemäß § 41 Abs. 1 S. 3 AMG einzuholen, sobald dies möglich und zumutbar ist (zu der in Art. 35 der VO (EU) 536/2014 vorgesehenen Neuregelung vgl. Rn. 75). Aufgrund ihrer systematischen Stellung im Absatz 1 des § 41 AMG, der einschlägig erkrankte Einwilligungsfähige betrifft, erfasst die Regelung unzweifelhaft den Fall, dass die Zustimmung des (einwilligungsfähigen) Probanden zwar eingeholt werden kann, angesichts der Eilbedürftigkeit der Behandlung jedoch keine den Anforderungen des § 40 Abs. 2 AMG genügende Aufklärung möglich erscheint.[270] Nach zutreffender Ansicht ist sie darüber hinaus jedoch auch auf einwilligungsunfähige (etwa bewusstlose) Notfallpatienten anwendbar, bei denen aufgrund des Zeitdruckes die von § 41 Abs. 3 Nr. 2 AMG verlangte Einwilligung eines gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten nicht rechtzeitig eingeholt werden kann (für die klinische Prüfung mit Medizinprodukten vgl. insofern § 21 Abs. 4 S. 2 MPG a.F.).[271] Die übrigen in § 41 Abs. 3 AMG normierten Kautelen bleiben hiervon selbstverständlich unberührt, und soweit § 41 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 i.V.m. § 40 Abs. 4 Nr. 3 S. 3 AMG für Einwilligungsunfähige die grundsätzliche Beachtlichkeit eines entgegenstehenden natürlichen Willens postuliert, wird man dies in ergänzender Auslegung auch auf Fälle im originären Anwendungsbereich des § 41 Abs. 1 S. 2 AMG zu übertragen haben.[272] Gleiches gilt im Grundsatz auch für eine Patientenverfügung i.S.d. § 1901a Abs. 1 BGB, welche die Teilnahme an Arzneimittelstudien ausschließt.[273] Abgesehen von der Frage, ob die Vorausverfügung die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation des Betroffenen hinreichend konkret umschreibt, wird hier in Notfallsituationen allerdings häufig das Problem bestehen, dass die für eine Prüfung der Validität einer vorgefundenen oder von Dritten beigebrachten Patientenverfügung benötigte Zeit nicht zur Verfügung steht.[274]
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Der Verzicht des § 41 Abs. 1 S. 2 AMG auf eine aktuelle Einwilligung des Probanden ist auch bei der Beurteilung möglicher strafrechtlicher Konsequenzen der Behandlung gemäß §§ 223 ff. StGB, § 96 Nr. 10 AMG zu beachten. Außerhalb der spezialgesetzlich im AMG geregelten klinischen Prüfungen ist beim einwilligungsunfähigen Notfallpatienten auf die allgemeinen Grundsätze der mutmaßlichen Einwilligungzurückzugreifen.[275] Dabei ist davon auszugehen, dass der mutmaßliche Wille des Betroffenen regelmäßig auf die Anwendung der etablierten Standardtherapie gerichtet sein wird. Der Einsatz einer neuen, vom Standard abweichenden Methode bedarf deshalb der besonderen Legitimation, die nur durch eine deutlich überlegene Risiko-Nutzen-Relation erbracht werden kann.[276] Ausgeschlossen ist vor diesem Hintergrund die Gabe von Placebos[277] sowie eine Randomisierung, die kaum vom mutmaßlichen Willen des Betroffenen gedeckt sein dürfte.[278] Zu beachten ist, dass Ehegatten sowie andere Angehörige des Betroffenen nicht zu dessen Stellvertretung befugt sind. Sie können lediglich Anhaltspunkte zur Ermittlung seines mutmaßlichen Willens liefern. Auch ein Betreuer kann sich dem Willen des Betreuten gemäß § 1901 BGB nicht entgegenstellen.[279]
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