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Neben den kernstrafrechtlichen Vorschriften der §§ 211 ff., 223 ff. StGB finden je nach dem Charakter des Forschungsvorhabens verschiedene Regelungen des Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrechts Anwendung.[209] Von praktischer Bedeutung waren dabei bereits in der Vergangenheit v.a. § 96 Nr. 10 und 11 AMG, die als BlankettnormenVerstöße gegen die §§ 40, 41 AMG sanktionieren und dabei als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgestaltet sind.[210] § 96 Nr. 10 AMG richtet sich primär an den Prüfer[211] und bedroht die Durchführung einer klinischen Prüfung i.S.d. § 4 Abs. 23 AMG mit gesunden Probanden mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe, wenn
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die vorhersehbaren Risiken und Nachteile der klinischen Prüfung gegenüber dem Nutzen für die Person, bei der sie durchgeführt werden soll, und der voraussichtlichen Bedeutung des Arzneimittels für die Heilkunde ärztlich nicht vertretbar sind (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG), |
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das Arzneimittel aus einem gentechnisch veränderten Organismus oder einer Kombination von gentechnisch veränderten Organismen besteht oder solche enthält und nach dem Stand der Wissenschaft im Verhältnis zum Zweck der klinischen Prüfung unvertretbare schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit Dritter zu erwarten sind (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2a AMG),[212] |
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gegen die in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3, Abs. 2 und Abs. 2a AMG normierten Anforderungen an die Aufklärung und Einwilligung des Probanden verstoßen wurde, |
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der Proband auf gerichtliche oder behördliche Anordnung in einer Anstalt untergebracht ist (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 AMG), |
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die in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 5 AMG normierten Anforderungen an die Qualifikation des Prüfers nicht eingehalten werden, |
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keine dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechende pharmakologisch-toxikologische Prüfung des Arzneimittels durchgeführt worden ist (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 6 AMG), |
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keine den Anforderungen gemäß § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 8, Abs. 3 AMG genügende Probandenversicherung abgeschlossen wurde oder |
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gegen die Vorschriften für die klinische Prüfung bei Minderjährigen gemäß § 40 Abs. 4 AMG verstoßen wurde.[213] |
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Darüber hinaus pönalisiert das Sonderdelikt[214] des § 96 Nr. 11 AMG den Beginn der klinischen Prüfung eines Arzneimittels durch den Sponsor entgegen § 40 Abs. 1 S. 2 AMG. Da die Vorschriften des Allgemeinen Teils des StGB gemäß Art. 1 Abs. 1 EGStGB auch im Nebenstrafrecht Anwendung finden, sind nur vorsätzliche Verstöße gegen § 96 Nr. 10, 11 AMG strafbar (vgl. § 15 StGB).[215] Die fahrlässige Begehung einer in § 96 Nr. 10 und 11 AMG bezeichneten Handlung wird demgegenüber in § 97 Abs. 1 Nr. 1 AMG lediglich als Ordnungswidrigkeit eingestuft;[216] gleiches gilt nach § 97 Abs. 2 Nr. 9 AMG für Verstöße gegen die in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 7 AMG normierte Informationspflicht und nach § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG für Verstöße gegen die auf der Grundlage des § 42 Abs. 3 AMG erlassene GCP-Verordnung. Die Strafbarkeit nach § 96 Nr. 10, 11 AMG steht zu einer Strafbarkeit nach den allgemeinen Körperverletzungs- und Tötungsdelikten in Tateinheit;[217] hingegen wird bei gleichzeitigem Vorliegen einer Straftat und einer Ordnungswidrigkeit nach § 97 AMG nur das Strafgesetz angewendet (vgl. § 21 Abs. 1 S. 1 OWiG).
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Durch das 4. AMG-ÄndG haben auch die Strafvorschriften in § 96 Nr. 10 und 11 AMG eine redaktionelle Anpassungan die Änderungen in den §§ 40 ff. AMG n.F. erfahren. Darüber hinaus finden sich strafbewehrte Verstöße gegen Vorschriften, die nicht mehr im AMG, sondern in der VO (EU) Nr. 536/2014 geregelt sind, zukünftig in § 96 Nr. 21 AMG n.F.[218]
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Die örtliche Anwendbarkeitdes § 96 AMG alter und neuer Fassung richtet sich nach dem Strafanwendungsrecht des StGB; dort sind für den vorliegend erörterten Zusammenhang insbesondere § 7 Abs. 2 und § 9 StGB von Bedeutung. Danach kann sich ein deutscher Sponsor oder Prüfer, der im Ausland eine klinische Prüfung durchführt, die den Voraussetzungen der §§ 40 ff. AMG bzw. der VO (EU) Nr. 536/2014 nicht entspricht, gemäß § 96 Nr. 10, 11, 21 AMG strafbar machen, wenn die Tat auch am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB; sog. passives Personalitätsprinzip[219]). Für den Tatbeteiligten, der die Studie im Ausland durch eine Tätigkeit im Inland unterstützt, gilt das Strafbarkeitsrisiko gemäß § 96 Nr. 10, 11, 21 AMG hingegen selbst dann, wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist (§ 9 Abs. 1 StGB für die Mittäterschaft und § 9 Abs. 2 S. 2 StGB für die Teilnahme).[220]
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Eine Sonderstellung nehmen bei Arzneimittelstudien Schwangereein. Nicht zuletzt die Erfahrungen mit dem teratogenen Potential von Thalidomid (Contergan®) haben die Gefahren eines Ausschlusses dieser Personengruppe von der Forschung aufgezeigt. Studien mit Schwangeren könnten dazu beitragen, den Umlauf von Arzneimitteln zu verhindern, deren schädliche Wirkung auf den Fetus ansonsten unerkannt bleiben würde. Zudem begünstigt der uneingeschränkte Ausschluss Schwangerer von der Teilnahme an Arzneimittelstudien Unsicherheiten in Bezug auf die Medikamentengabe. Notwendig und wünschenswert erscheint daher eine Forschung mit Schwangeren, die der besonderen Vulnerabilität[221] dieser Personengruppe Rechnung trägt.[222] In Deutschland ist die Arzneimittelforschung an Schwangeren bislang noch nicht ausdrücklich geregelt.[223] Art. 33 der VO (EU) 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln lässt die Forschung mit Schwangeren jedoch zukünftig unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen zu.[224] Ähnlich enthielt § 20 Abs. 5 Nr. 4 MPG a.F. bislang für die Medizinprodukteforschung eine (in § 41 Nr. 4 MPG a.F. strafbewehrte) restriktive Regelung, welche u.a. die Subsidiarität der Forschung mit Schwangeren hervorhob;[225] einschlägig ist insofern nunmehr Art. 66 der Medizinprodukte-VO (EU) 2017/745.[226] Radioaktive Stoffe oder ionisierende Strahlung dürfen zum Zweck der medizinischen Forschung gemäß § 137 Abs. 1 S. 1 StrlSchV nicht an einer schwangeren Person angewendet werden. Die Verpflichtung, bei der Durchführung klinischer Prüfungen mit stillenden oder schwangeren Frauen besondere Vorsicht walten zu lassen, ergibt sich auch aus Art. 33 der VO (EU) Nr. 536/2014. Die Leibesfrucht ist überdies durch das Kernstrafrecht geschützt; so sind, je nach Konstellation, die §§ 218 ff. StGB einschlägig, die den Abbruch der Schwangerschaft regeln.[227]
2. Einschlägig erkrankte Personen
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Für die Forschung mit einschlägig erkrankten Personen– d.h. mit solchen Personen, die an der Krankheit leiden, zu deren Behandlung das zu erprobende Medikament dienen soll – gelten zum Teil abweichende Vorschriften.[228] In diesem Zusammenhang ist vor allem auf die Modifikation hinzuweisen, welche die in § 40 AMG normierten Anforderungen an die Durchführung klinischer Studien im (noch) geltenden Recht durch § 41 AMG erfahren. Dabei liegt eine wesentliche Einschränkung der für gesunde einwilligungsfähige Personen geltenden Regelungen darin, dass in § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AMG – anders als in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG – fremdnützige Forschung ausschließlich beim Nachweis eines direkten Nutzens für die Gruppe der einschlägig erkrankten Personen (des sog. Gruppennutzens, vgl. Rn. 28, 30) gestattet ist.[229] Daneben ist bei dem hier in Rede stehenden Personenkreis selbstverständlich auch die eigennützige Forschung unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen erlaubt (vgl. § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AMG). In der VO (EU) 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln findet sich die Bezugnahme auf den Gruppennutzen in den Regelungen zur Durchführung klinischer Prüfungen mit nicht einwilligungsfähigen Personen (Art. 31 Abs. 1 lit. g ii), mit Minderjährigen (Art. 32 Abs. 1 lit. g ii) sowie mit schwangeren und stillenden Frauen (Art. 33 lit. b ii, vgl. Rn. 30).
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