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Die strafrechtliche Bewertung der Forschung mit einschlägig erkrankten Personen richtet sich zunächst nach den Regelungen zum Heilversuch (ausf. Rn. 31). Danach kommt bei mangelhafter Aufklärung oder Behandlungsfehlern eine Verantwortlichkeit des behandelnden Arztes nach den Delikten gegen Leib oder Leben(§§ 211 ff., 223 ff. StGB) in Betracht. Zu beachten ist auch hier, dass § 216 StGB die Tötung auf Verlangen grundsätzlich mit Strafe bedroht;[230] jedoch wird die sog. indirekte Sterbehilfe, bei der mit dem Willen des Betroffenen schmerz- bzw. leidensmindernde Maßnahmen mit lebensverkürzender Wirkung vorgenommen werden, mit unterschiedlicher dogmatischer Begründung vom Anwendungsbereich des § 216 StGB ausgenommen.[231] Bei der Einwilligung in eine mit dem Heilversuch verbundene Körperverletzung ist die in § 228 StGB gezogene Grenze der Sittenwidrigkeitzu beachten, die nach der von der h.M. verwendeten Formel jedenfalls bei Eingriffen überschritten wird, durch die der Betroffene in eine konkrete Todesgefahr gerät.[232] Von Bedeutung für den vorliegenden Kontext ist allerdings die oben ( Rn. 57) erwähnte Ausnahme, die für den Fall gemacht wird, dass die Todesgefahr im Rahmen eines ärztlichen Eingriffes eingegangen wird, der seinerseits zum Zwecke der Lebenserhaltung vorgenommen wird; hier wird der Zweck der Behandlungsmaßnahme ausnahmsweise als geeignet angesehen, die Bedeutung der erheblichen Gefährdung zu kompensieren.[233] Für die klinische Prüfung erfährt das Sittenwidrigkeitsurteil i.S.d. § 228 StGB wiederum eine Konkretisierung durch die im AMG bzw. in der VO (EU) 536/2014 vorgesehene Risiko-Nutzen-Abwägung. Im Rahmen von Studien gegen Krebserkrankungen kann aufgrund der potenziellen Wirkung bzw. gravierenden Nebenwirkungen der Chemotherapeutika bereits in Studie I eine Anwendung an gesunden Probanden ausscheiden; hier ergeben sich erhebliche Belastungen für die teilnehmenden Patienten, auf die im Rahmen des Aufklärungsgesprächs eingegangen werden muss.[234]
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Die Gabe von Placeboswird zwar von den einschlägigen Regelwerken nicht kategorisch ausgeschlossen,[235] ist jedoch bei kranken Personen nicht unproblematisch, da der Arzt mit der Übernahme der Behandlung in eine Garantenstellung i.S.d. § 13 StGB gegenüber dem Patienten eintritt,[236] die eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung oder Totschlags durch Unterlassenbegründen kann, wenn die Nichtgabe des Verums eine Gesundheitsschädigung oder den Tod des Patienten zur Folge hat (vgl. Rn. 31). Mit Ulsenheimer [237] ist hier im Grundsatz danach zu differenzieren, ob ein Standardmedikament vorhanden ist: Da den Prüfer nach zutreffender Ansicht keine Garantenpflicht zur Verabreichung des Testpräparates trifft,[238] kommt eine (Unterlassungs-)Strafbarkeit aus den Körperverletzungs- und Tötungsdelikten lediglich bei einer Vorenthaltung des (indizierten) Standardmedikaments in Betracht. Da § 630e Abs. 1 S. 1 BGB den Behandelnden dazu verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären, erstreckt sich die Aufklärungspflicht nach zutreffender Ansicht sowohl bei der klinischen Arzneimittelprüfung als auch bei der Placebogabe im Rahmen der Individualtherapie auch auf den möglichen Placeboeinsatz.[239] Der teilweise in diesem Zusammenhang befürwortete[240] Rekurs auf eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten scheidet hingegen aufgrund der Möglichkeit der Einholung einer aktuellen Einwilligung regelmäßig aus.[241] Hervorzuheben ist des Weiteren der bereits weiter oben ( Rn. 38) angesprochene Grundsatz, dass die Probanden durch den Verzicht auf das Verum keinen Schaden erleiden dürfen;[242] insofern verlangt insbesondere Ziff. 33 DvH einschränkend, dass Patienten „keinem zusätzlichen Risiko eines ernsten oder irreversiblen Schadens ausgesetzt werden (dürfen), welches sich daraus ergibt, dass sie nicht die nachweislich beste Maßnahme erhalten haben“.[243] Im Schrifttum wird allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass auch bei Annahme einer Garantenpflichtverletzung häufig der Kausalitäts- bzw. Vorsatznachweis Probleme bereiten wird.[244] Die Weigerung der Verantwortlichen eines Pharmaunternehmens, ein noch nicht zugelassenes Arzneimittel für einen individuellen Heilversuch im Rahmen eines sog. Compassionate Use Programmes zur Verfügung zu stellen, ist nicht strafbewährt; sie stellt insbesondere keine unterlassene Hilfeleistung gemäß § 323c StGB dar.[245]
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Im Nebenstrafrecht sind bei der Beurteilung einer Strafbarkeit des Prüfers nach der derzeit (noch) geltenden Fassung des § 96 Nr. 10 AMG die in § 41 AMG vorgenommenen Modifikationen der von § 96 Nr. 10 AMG in Bezug genommenen Regelungen des § 40 AMG zu berücksichtigen.[246] Die VO (EU) 536/2014 formuliert in Art. 31 ff. nur noch besondere Anforderungen für die Durchführung von klinischen Prüfungen mit Einwilligungsunfähigen, Minderjährigen sowie schwangeren und stillenden Frauen.
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Besonderen Anforderungen unterliegt die Forschung mit Einwilligungsunfähigen, insbesondere mit psychisch Kranken und geistig Behinderten. Es herrscht ein internationaler Grundkonsens darüber, dass medizinische Forschung in diesem Bereich nur in Betracht kommt, wenn die mit ihr verbundenen Risiken und Belastungen minimal bleiben, der Subsidiaritätsgrundsatz strikte Beachtung findet, das Vorhaben durch eine unabhängige Instanz überprüft und gebilligt und das Selbstbestimmungsrecht des Einwilligungsunfähigen durch die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters und die Beachtung seines natürlichen Willens gewahrt wird (vgl. Art. 28 ff. DvH).[247]
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Diesen Konsens bildet auch § 41 Abs. 3 AMGab, der die vorerwähnten Anforderungen (mit Ausnahme der bereits von §§ 40 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 1 AMG vorausgesetzten Zustimmung der Ethikkommission) in Nr. 1 bis 3 weiter präzisiert und darüber hinaus bestimmt, dass für die Studienteilnahme keine Vorteile gewährt werden dürfen, die über eine angemessene Entschädigung hinausgehen.[248] § 41 Abs. 3 AMG untersagt zunächst die Durchführung klinischer Prüfungen mit gesunden Einwilligungsunfähigen, indem verlangt wird, dass der Einwilligungsunfähige an der Krankheit leiden muss, zu deren Behandlung das zu prüfende Arzneimittel angewendet werden soll.[249] § 41 Abs. 3 Nr. 1 AMG unterwirft die klinische Prüfung mit Einwilligungsunfähigen einer strengen Risiko-Nutzen-Abwägung[250] und verlangt, dass der Einwilligungsunfähige einen unmittelbaren Nutzen aus der medizinischen Forschung ziehen muss; eine Rechtfertigung über einen möglichen Gruppennutzen kommt damit – anders als dies etwa § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AMG für einschlägig erkrankte Einwilligungsfähige und verschiedene völker- und europarechtliche Rechtsquellen[251] auch für Einwilligungsunfähige vorsehen – nach dem (noch) geltenden Recht nicht in Betracht.[252] Die Einwilligung wird durch den gesetzlichen Vertreter oder Bevollmächtigten nach entsprechender Aufklärung abgegeben (§ 41 Abs. 3 Nr. 2 S. 1 AMG); daneben ist auch der Einwilligungsunfähige aufzuklären, und sein entgegenstehender natürlicher Wille ist zu beachten (§ 41 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 i.V.m. § 40 Abs. 4 Nr. 3 S. 3 AMG; vgl. auch Ziff. 29 DvH).[253] Nach dem in § 41 Abs. 3 Nr. 3 AMG verankerten Subsidiaritätsgrundsatz muss die Forschung für die Bestätigung von Daten, die bei klinischen Prüfungen an Einwilligungsfähigen oder mittels anderer Forschungsmethoden gewonnen wurden, unbedingt erforderlich sein. Mit Blick auf Arzneimittelversuche in der Psychiatrie ist überdies an die Regelung des § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 AMG zu erinnern, welche die Durchführung klinischer Prüfungen mit Personen, die auf gerichtliche oder behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt sind, generell für unzulässig erklärt.[254]
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