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Bei der Durchführung der Behandlung hat sich der Arzt an den bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu orientieren, soweit nicht etwas anderes zwischen ihm und dem Patienten vereinbart ist (§ 630a Abs. 2 BGB). Ausschlaggebend ist damit regelmäßig der sog. Facharztstandard,[113] der für das jeweilige Fachgebiet im Zeitpunkt der Behandlung maßgeblich ist; die Parteien des Behandlungsvertrages können jedoch auch einen abweichenden Standard der Behandlung vereinbaren und so insbesondere den Raum für einen Heilversuch oder die Anwendung einer Neulandmethode schaffen.[114] In der Anwendung eines noch nicht zugelassenen Medikamentes oder einer neuen Operationsmethode liegt dann nicht allein aufgrund der Standardabweichung ein haftungsrelevanter Sorgfaltspflichtverstoß; der Arzt ist jedoch – wie bereits dargelegt ( Rn. 27) – verpflichtet, einen besonders sorgfältigen Vergleich der Risiko-Nutzen-Profile von Standardbehandlung und neuer Methode vorzunehmen.[115] Die zugrunde liegende Abwägung ist überdies zu aktualisieren, „sobald neue Erkenntnisse über mögliche Risiken und Nebenwirkungen vorliegen, über die sich der behandelnde Arzt ständig, insbesondere auch durch unverzügliche Kontrolluntersuchungen zu informieren hat“.[116]
IV. Zulässigkeitsvoraussetzungen der Arzneimittelprüfung
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Einen Schwerpunkt der medizinischen Forschung am Menschen bildet die Arzneimittelstudie, die auch als klinische Prüfungbezeichnet wird.[117] Die Legaldefinition des § 4 Abs. 23 S. 1 AMG versteht unter der klinischen Prüfung „jede am Menschen durchgeführte Untersuchung, die dazu bestimmt ist, klinische oder pharmakologische Wirkungen von Arzneimitteln zu erforschen oder nachzuweisen oder Nebenwirkungen festzustellen oder die Resorption, die Verteilung, den Stoffwechsel oder die Ausscheidung zu untersuchen, mit dem Ziel, sich von der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit der Arzneimittel zu überzeugen“. Die VO (EU) Nr. 536/2014 differenziert demgegenüber zwischen klinischer Prüfung und klinischer Studie. Nach Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 ist unter einer klinischen Studie jede am Menschen durchgeführte Untersuchung zu verstehen, die dazu bestimmt ist,
a) |
die klinischen, pharmakologischen oder sonstigen pharmakodynamischen Wirkungen eines oder mehrerer Arzneimittel zu erforschen oder zu bestätigen, |
b) |
jegliche Nebenwirkungen eines oder mehrerer Arzneimittel festzustellen |
c) |
oder die Absorption, die Verteilung, den Stoffwechsel oder die Ausscheidung eines oder mehrerer Arzneimittel zu untersuchen, |
mit dem Ziel, die Sicherheit und/oder Wirksamkeit dieser Arzneimittel festzustellen. Hingegen liegt eine klinische Prüfung gemäß Art. 2 Abs. 2 Nr. 2 bei einer klinischen Studie vor, die mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt:
a) |
Der Prüfungsteilnehmer wird vorab einer bestimmten Behandlungsstrategie zugewiesen, die nicht der normalen klinischen Praxis des betroffenen Mitgliedstaats entspricht; |
b) |
die Entscheidung, die Prüfpräparate zu verschreiben, wird zusammen mit der Entscheidung getroffen, den Prüfungsteilnehmer in die klinische Studie aufzunehmen, oder |
c) |
an den Prüfungsteilnehmern werden diagnostische oder Überwachungsverfahren angewendet, die über die normale klinische Praxis hinausgehen. |
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Die Schaffung dieses zweistufigen Systems, bei dem die klinische Studieden Oberbegriff bildet, der neben der hier interessierenden klinischen Prüfung auch die nichtinterventionelle Studie umfasst (vgl. Art. 2 Abs. 2 Nr. 4 der Verordnung; dazu Rn. 49), soll der begrifflichen Präzisierung und der Anpassung an internationale Leitlinien und das Unionsrecht für Arzneimittel dienen.[118] § 4 Abs. 23 S. 1 AMG n.F. verweist zur Definition der klinischen Prüfung zukünftig unmittelbar auf Art. 2 Abs. 2 Nr. 2 der VO (EU) Nr. 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln.
1. Phasen einer klinischen Prüfung
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Der klinischen Prüfung eines Arzneimittels vorgelagert ist das sog. Screening. Dieses umfasst die Wirkstoffsuche in verschiedenen Präparaten, die im weiteren Verlauf in der präklinischen Phase an Tieren bzw. in zunehmendem Maße auch in vitro an aus Stammzellen abgeleiteten Zellen getestet werden.[119] Die Anforderungen an die Durchführung von Tierversuchen sind dabei insbesondere in den §§ 7 ff. TierSchG sowie in der Tierschutz-Versuchstierverordnung geregelt.[120] Die präklinische Phase dauert in der Regel ca. 4–6 Jahre.[121] Hat sich der erprobte Wirkstoff als erfolgversprechend erwiesen, so schließt sich an die präklinische Phase die klinische Prüfung an.[122] Die klinische Prüfung ist in vier Phasen unterteilt, die sich vom ersten Versuch am Menschen über die Anwendung in umfangreicheren Patientengruppen bis hin zur fortdauernden Kontrolle nach erfolgter Zulassung erstrecken.[123] Auch bei planmäßig vor der Hauptstudie durchgeführten Pilotstudien handelt es sich um klinische Prüfungen i.S.d. § 4 Abs. 23 S. 1 AMG; sie unterfallen daher ebenfalls den Anforderungen der §§ 40 ff. AMG.[124]
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Bei der Phase Ihandelt es sich um ein kontrolliertes wissenschaftliches Experiment, da die Durchführung der Gesundheit des Probanden nicht in unmittelbarer Weise nutzt.[125] In dieser Phase werden durch die Erprobung an einer geringen Anzahl i.d.R. männlicher[126] Probanden Informationen zur Verträglichkeit der Prüfsubstanz, zu ihrer Pharmakokinetik und Pharmakodynamik gewonnen.[127] Bei einigen Substanzen wie z.B. Chemotherapeutika, die aufgrund ihrer potenziellen Wirkung bzw. gravierenden Nebenwirkungen nicht an gesunden Probanden getestet werden können, muss bereits in der ersten Phase auf erkrankte Personen zurückgegriffen werden.[128]
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In der Phase IIwerden erstmals an einer Anzahl von ca. 100 bis 500 einschlägig erkrankten Probanden die Wirkungen des Arzneimittels auf die definierten Krankheitssymptome getestet, um seine therapeutische Wirksamkeit im geplanten Indikationsbereich nachzuweisen und etwaige Neben- bzw. Wechselwirkungen und Begleiterscheinungen festzustellen.[129] Zur Sicherstellung der Validität der Ergebnisse wird in Phase II üblicherweise eine Randomisierung vorgenommen. Dabei werden die Probanden nach einem auf dem Zufallsprinzip beruhenden mathematischen Auswahlverfahren in zwei Gruppen aufgeteilt (sog. Randomised Controlled Trial, RCT).[130] Die erste Gruppe (die sog. Verum- oder Testgruppe) erhält das in der Erprobung befindliche Arzneimittel, bei der zweiten (der sog. Kontrollgruppe) wird die Standardtherapie[131] angewandt oder ausnahmsweise ein Placebo verabreicht.[132] Dabei wirft die Placebogabe aufgrund ihres fehlenden Nutzens für den erkrankten Patienten intrikate rechtliche und medizinethische Fragen auf.[133] Unzulässig sind entsprechende Studien, wenn sie die Heilungschancen der Probanden verringern. Die Probanden dürfen durch den Verzicht auf das Verum keinen Schaden erleiden.[134] Probleme zeitigt der Einsatz von Placebos darüber hinaus im Hinblick auf die Aufklärung der Studienteilnehmer, da eine vollständige Offenlegung den (erwünschten) Placeboeffekt nivellieren würde (siehe dazu auch Rn. 66).[135] Um einer systematischen Verzerrung der Prüfungsergebnisse durch Autosuggestion und subjektive Eindrücke vorzubeugen, werden Arzneimittelstudien – mit Einwilligung der entsprechend aufgeklärten Probanden[136] – in Form sog. (Doppel-)Blindversuche durchgeführt. Beim einfachen Blindversuch weiß lediglich der Arzt, ob der Proband der Kontrollgruppe oder der Verumgruppe angehört. Der Doppelblindversuch zeichnet sich dadurch aus, dass auch der Arzt nicht über die Information verfügt, ob sich der Proband in der Verumgruppe oder in der Kontrollgruppe befindet.[137] Auf diesem Wege soll eine Beeinflussung des Probanden durch den Arzt vermieden werden, der im Falle der Kenntnis unbewusst optimistische oder pessimistische Signale aussenden könnte.[138] Möglich ist schließlich auch das sog. Cross over-Verfahren, bei dem die Zuordnung der Probandengruppe in regelmäßigen Zeitabständen wechselt.[139] Die letztgenannten Verfahren geben Anlass zur Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht durch den Studienteilnehmer angemessen ausgeübt werden kann, wenn er nicht weiß, ob er das Verum erhalten wird oder nicht.[140]
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