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Von Bedeutung für den Bereich der medizinischen Forschung ist des Weiteren Art. 3 Abs. 2 EUGrCh. Die Vorschrift schreibt den in der oben ( Rn. 5, 7) erwähnten Biomedizinkonvention des Europarates dokumentierten bioethischen Grundkonsens[56] dahingehend fort, dass im Rahmen der Medizin und der Biologie die freie Einwilligung des Betroffenen nach vorheriger Aufklärung entsprechend den gesetzlich festgelegten Einzelheiten (lit. a), das Verbot eugenischer Praktiken (lit. b), das Verbot, den menschlichen Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen (lit. c) sowie das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen (lit. d) zu beachten sind. Die Regelung bildet damit eine Schranke u.a. für die in Art. 13 EUGrCh gewährleistete Forschungsfreiheit.[57]
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Auf nationaler Ebene gewährleistet Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre. Dabei bildet die Wissenschaftsfreiheit[58] den Oberbegriff, dem Forschung und Lehre zugeordnet sind; er umfasst nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG „vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen beim Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe“.[59] Die zahlreichen spezialgesetzlichen Regelungen auf dem Gebiet der medizinischen Forschung greifen nicht unerheblich in die Wissenschaftsfreiheit ein; eine Rechtfertigung für derartige Eingriffe kann sich aus den immanenten Schranken der Grundrechte sowie anderen Werten von Verfassungsrang ergeben. Für den vorliegenden Kontext sind insofern v.a. die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG), das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) relevant.[60] Dabei ist der Konflikt zwischen verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten unter Rückgriff auf weitere einschlägige verfassungsrechtliche Bestimmungen und Prinzipien sowie auf den Grundsatz der praktischen Konkordanz durch Verfassungsauslegung zu lösen.[61]
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Sind von der medizinischen Forschung Minderjährige betroffen, so ist auch das in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Elternrechttangiert.[62] Gemäß §§ 1626, 1629 Abs. 1 S. 1 BGB obliegt die Personensorge beiden Elternteilen; sie hat sich stets am Wohl des Kindes zu orientieren (vgl. § 1627 S. 1 BGB). Vor diesem Hintergrund scheidet eine Einwilligung in die Teilnahme an ausschließlich fremdnütziger Forschung aus.[63] Als gesetzliche Vertreter sind die Eltern befugt, für das Kind die Einwilligung in ärztliche Heileingriffe zu erklären, sofern hierin kein Sorgerechtsmissbrauch zu sehen ist. Die elterliche Entscheidungsbefugnis wird allerdings sukzessive von der zunehmenden Grundrechtsmündigkeit des heranwachsenden Minderjährigen überlagert (vgl. Rn. 79).
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Die bedeutendste einfachgesetzliche Rechtsquelle für den Bereich der medizinischen Forschung bildet das Arzneimittelgesetz, das v.a. in seinen §§ 40 ff. detaillierte Regelungen für die Durchführung klinischer Prüfungen enthält. Keine Anwendung finden die in Rede stehenden Vorschriften auf nicht-interventionelle Prüfungen i.S.v. § 4 Abs. 23 S. 3 AMG, auf den individuellen Heilversuch sowie auf den sog. Off-Label-Use, d.h. den Einsatz von Arzneimitteln außerhalb des zugelassenen Gebrauchs.[64]
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Erwähnenswert ist überdies die Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen ( GCP-Verordnung). Der Zweck dieser Verordnung, die in Umsetzung der EU-Richtlinie 2001/20/EG entstanden ist[65] und ihre Rechtsgrundlage in § 42 Abs. 3 AMG findet, besteht nach § 1 Abs. 1 GCP-V darin, die Einhaltung der guten klinischen Praxis bei der Planung, Durchführung und Dokumentation klinischer Prüfungen am Menschen und deren Berichterstattung sicherzustellen, um so zu gewährleisten, dass die Rechte, die Sicherheit und das Wohlergehen der betroffenen Person geschützt werden und die Ergebnisse der klinischen Prüfung glaubwürdig sind. Bei klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln, die aus einem gentechnisch veränderten Organismus oder einer Kombination von gentechnisch veränderten Organismen bestehen oder solche enthalten, ist darüber hinaus gemäß § 1 Abs. 2 GCP-V der Schutz der Gesundheit nicht betroffener Personen und der Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge bezweckt. Zum Wegfall der GCP-Verordnung mit der Geltungserlangung der VO (EU) 536/2014 vgl. bereits oben Rn. 13.
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Weitere gesetzliche Regelungenzu Einzelfragen der medizinischen Forschung finden bzw. fanden sich (in der Vergangenheit) im Medizinproduktegesetz (nunmehr: Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz[66]) sowie im Strahlenschutzgesetz und in der Strahlenschutzverordnung. Das Berufsrecht der Ärzteschaft widmet sich der medizinischen Forschung in § 15 MBO-Ä (bzw. in den entsprechenden Bestimmungen der Berufsordnungen der Landesärztekammern).
D. Systematisierung der verschiedenen Formen versuchsweiser ärztlicher Behandlung
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Begibt sich der Arzt mit einer Behandlungsmaßnahme auf medizinisches Neuland, so zieht der versuchsweise Charakterdes ärztlichen Handelns mehr oder weniger ausgeprägte Modifikationen der (grundsätzlich weiterhin anwendbaren) allgemeinen Regeln nach sich, denen die rechtliche Bewertung ärztlicher Heileingriffe unterliegt. Phänomenologisch kann dabei sowohl nach dem dominierenden Handlungszweck als auch nach dem erwarteten Nutzen der Behandlung für den von ihr Betroffenen differenziert werden: Neben den Heilungszweck, der auch bei der versuchsweisen Behandlung kranker Personen stets im Vordergrund stehen sollte,[67] kann ein Interesse des behandelnden Arztes (oder Dritter, z.B. eines Pharmakonzerns) an der systematischen Gewinnung empirischer Erkenntnisse über den Krankheitsverlauf und die Wirkungen der eingesetzten Medikamente treten. Sodann kann die Versuchsbehandlung[68] zum einen für den von ihr Betroffenen einen unmittelbaren Nutzen versprechen, zum anderen aber auch lediglich – vermittelt über den angestrebten Erkenntnisgewinn – Hilfe für die Gruppe der einschlägig Erkrankten verheißen (wobei der Studienteilnehmer wiederum Teil dieser Gruppe, aber auch ein gänzlich unbelasteter Gesunder sein kann). Je nachdem, welche Zwecksetzung und welches Nutzenkalkül der Versuchsbehandlung zugrunde liegt, können unterschiedliche Gefährdungslagen für Patienten bzw. Probanden entstehen, welche der rechtlichen Einhegung bedürfen. Auf die mit den vorstehend skizzierten Unterscheidungen verbundenen rechtlichen Konsequenzen ist daher im Folgenden näher einzugehen; zuvor bedarf es jedoch noch einer weiteren Präzisierung der begrifflichen Abgrenzung.
I. Standardbehandlung, Heilversuch und Forschungseingriff
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Mit Blick auf den der Versuchsbehandlung zugrunde liegenden Handlungszweckbietet sich eine Unterscheidung zwischen Heilversuch und Forschungseingriff an; darüber hinaus ist der Heilversuch von der medizinischen Standardbehandlung abzugrenzen.[69]
1. Abgrenzung zwischen Heilversuch und Standardbehandlung
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Der Heilversuchunterscheidet sich von der Standardbehandlungnicht durch die Ungewissheit der Heilungschancen, die insbesondere auch risikoträchtigen Standardtherapien immanent ist.[70] Für die Abgrenzung ist vielmehr ausschlaggebend, ob der Arzt lediglich den Standard[71] nachvollzieht, oder ob er sich auf medizinisches Neuland begibt und damit gleichsam eine Weiterentwicklung des heutigen Standards betreibt.[72] Erfolgt die gewählte Behandlung auf einer empirisch hinreichend gesicherten Grundlage, basiert sie auf medizinischer Erfahrung und erfreut sich professioneller Akzeptanz, so ist von einer medizinischen Standardbehandlung auszugehen.[73] Fehlt es an einem dieser Merkmale, handelt der Arzt versuchsmäßig (was allerdings nichts daran ändert, dass auch der dann gegebene Heilversuch rechtlich als ärztliche Behandlung einzuordnen ist).[74]
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