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Die vorstehend skizzierten Kategorien der Nutzenallokation haben in unterschiedlichem Ausmaß Eingang in die nationalen und internationalen Bestimmungen des Rechts der medizinischen Forschunggefunden: So macht § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG die Durchführung der klinischen Prüfung eines Arzneimittels davon abhängig, dass „die vorhersehbaren Risiken und Nachteile gegenüber dem Nutzen für die Person, bei der sie durchgeführt werden soll (betroffene Person), und der voraussichtlichen Bedeutung des Arzneimittels für die Heilkunde ärztlich vertretbar sind“. Rechtfertigende Bedeutung kann mithin nicht nur der erwartete Eigennutzen für den Teilnehmer, sondern auch ein etwaiger Fremdnutzen zugunsten der Allgemeinheit in Form des sog. Heilkundenutzens entfalten (i.d.S. auch Art. 28 Abs. 1 lit. a der VO [EU] 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln; vgl. auch § 20 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 MPG a.F. sowie nunmehr Art. 62 Abs. 4 lit. e der Medizinprodukte-VO [EU] 2017/745 für Medizinprodukte). Ein strengerer Maßstab gilt demgegenüber für klinische Studien mit einwilligungsunfähigen erwachsenen Teilnehmern und gesunden Minderjährigen; bei diesen kommt nach § 41 Abs. 3 Nr. 1 AMG bzw. § 40 Abs. 4 Nr. 1 AMG lediglich eine Rechtfertigung nach dem Prinzip des Eigennutzens in Betracht (zur partiellen Neuregelung durch das 4. AMG-ÄndG sogleich in Rn. 30). Dasselbe galt in der Vergangenheit auch für Medizinproduktestudien mit Minderjährigen sowie mit schwangeren oder stillenden Teilnehmerinnen (vgl. § 20 Abs. 4 Nr. 2, Abs. 5 Nr. 2 MPG a.F.).[99] Auch zur Rechtfertigung der studienbedingten Anwendung von radioaktiven Stoffen und ionisierender Strahlung bei einwilligungsunfähigen und minderjährigen Personen kann lediglich auf den Eigennutzen der Betroffenen rekurriert werden (§ 136 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StrlSchV).[100]
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Auf das Legitimationsprinzip des Gruppennutzenshat der deutsche Gesetzgeber bislang eher zurückhaltend und lediglich für einen Teilbereich der klinischen Prüfung von Arzneimitteln zurückgegriffen (vgl. § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und Abs. 2 S. 1 Nr. 2a AMG für einwilligungsfähige Erwachsene und Minderjährige). Eine tendenziell großzügigere Verwendung hat das Prinzip des Gruppennutzens auf europäischer und internationaler Ebene gefunden; dies gilt insbesondere für Studien mit nicht einwilligungsfähigen Personen (vgl. z.B. Ziff. 28 DvH sowie Art. 17 Abs. 2 der – von Deutschland bislang nicht unterzeichneten – Biomedizinkonvention des Europarates[101]). Die VO (EU) 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimittelnmacht ebenfalls an verschiedenen Stellen Gebrauch vom Legitimationsprinzip des Gruppennutzens: Danach kann ein Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgruppe klinische Prüfungen mit nicht einwilligungsfähigen Personen (Art. 31 Abs. 1 lit. g ii), mit Minderjährigen (Art. 32 Abs. 1 lit. g ii) sowie mit schwangeren und stillenden Frauen (Art. 33 lit. b ii) rechtfertigen, wobei jeweils einschränkend postuliert wird, dass die Prüfung den Prüfungsteilnehmer (bzw. den Embryo, den Fötus oder das Kind nach der Geburt) lediglich einem minimalen Risiko und einer minimalen Belastung aussetzen darf. In Bezug auf nicht einwilligungsfähige Prüfungsteilnehmer bleiben überdies mögliche strengere nationale Regelungen gemäß Art. 31 Abs. 2 der Verordnung unberührt.[102] Der deutsche Gesetzgeber hat von dieser Öffnungsklausel insofern Gebrauch gemacht, als gruppennützige klinische Prüfungen bei einwilligungsunfähigen Erwachsenen gemäß § 40b Abs. 4 S. 3 AMG n.F. zukünftig nur durchgeführt werden dürfen, soweit die betroffene Person im Zustand der Einwilligungsfähigkeit und Volljährigkeit eine Vorausverfügung für den Fall des Eintritts der Einwilligungsunfähigkeit getroffen hat. Aufgabe des Betreuers ist es, zu prüfen, ob die in der Vorausverfügung enthaltenen Festlegungen auf die aktuelle Situation zutreffen (§ 40b Abs. 4 S. 4 AMG n.F.).[103] Art. 66 der Medizinprodukte-VO (EU) 2017/745verlangt für die Durchführung klinischer Prüfungen von Medizinprodukten mit schwangeren oder stillenden Frauen zusätzlich zu den in Art. 62 Abs. 4 der VO genannten Voraussetzungen, dass die Prüfung entweder „unter Umständen einen direkten Nutzen für die betroffene schwangere oder stillende Frau oder ihren Embryo oder Fötus oder ihr Kind nach der Geburt zur Folge (hat), der die Risiken und Belastungen überwiegt“ (lit. a) oder „bei Forschungsvorhaben mit stillenden Frauen (…) in besonderem Maße dafür Sorge getragen (wird), dass eine Beeinträchtigung der Gesundheit des Kindes ausgeschlossen ist“ (lit. b).
III. Rechtliche Anforderungen an die Durchführung von Heilversuchen
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Als ärztlicher Heileingriff unterfällt der Heilversuchden insofern einschlägigen straf- und zivilrechtlichen Regelungen. Aus strafrechtlicher Perspektive kommt daher eine Strafbarkeit eigenmächtig vorgenommener Behandlungen als Körperverletzung (§§ 223 ff. StGB), eine Strafbarkeit von Behandlungsfehlern als fahrlässige Körperverletzung oder fahrlässige Tötung (§§ 229, 222 StGB; ausf. dazu → BT Bd. 6: Detlev Sternberg-Lieben , Ärztliche Heilbehandlung und Fahrlässigkeitsstrafbarkeit, § 52) und schließlich – im Falle der Verweigerung einer an sich indizierten Behandlung – eine Strafbarkeit nach den Grundsätzen des Unterlassungsdelikts (§§ 13, 323c StGB) in Betracht.[104] In zivilrechtlicher Hinsicht ist der Heilversuch v.a. an den mit dem Patientenrechtegesetz[105] geschaffenen Vorschriften der §§ 630a ff. BGB zu messen, mit denen im Wesentlichen die vorherige Rechtsprechung der Zivilgerichte in Arzthaftungssachen kodifiziert wurde.
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Bei der rechtlichen Bewertung von Heilversuchen ist zunächst zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung jeder – also auch der medizinisch indizierte und lege artis durchgeführte – ärztliche Heileingriff als tatbestandsmäßige Körperverletzungeinzuordnen ist, die zu ihrer Rechtfertigung der wirksamen Einwilligungdes Patienten bedarf.[106] Die Wirksamkeit der Einwilligung setzt wiederum voraus, dass der Patient rechtzeitig[107] ordnungsgemäß über alle für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufgeklärt worden ist (vgl. §§ 630d Abs. 2, 630e Abs. 1 S. 1 BGB).[108] Zu den insofern wesentlichen Umständen gehören gemäß § 630e Abs. 1 S. 2 BGB insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. Von besonderer Bedeutung für den vorliegend erörterten Zusammenhang ist die sog. Methodenaufklärung, deren Umfang dadurch begrenzt wird, dass die Wahl der Behandlungsmethode grundsätzlich Sache des behandelnden Arztes ist.[109] Dieser muss jedoch unter mehreren medizinisch anerkannten Heilverfahren dasjenige wählen, das einerseits die besten Heilungschancen eröffnet, andererseits die geringste Gefahr für den Patienten mit sich bringt und ihm die wenigsten Schmerzen bereitet.[110] Existieren mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden, die zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können, so liegt die Entscheidung beim Patienten, der daher entsprechend aufzuklären ist (§ 630e Abs. 1 S. 2 BGB).[111] Beim Heilversuch kommt hinzu, dass dieser sich bewusst vom erfahrungsbasierten medizinischen Standard löst und damit in besonderem Maße die Gefahr bislang unbekannter Komplikationen mit sich bringt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat daher der Arzt, der eine neue und noch nicht allgemein eingeführte Behandlung mit einem neuen, noch nicht zugelassenen Medikament mit ungeklärten Risiken vornehmen will, den Patienten nicht nur über die noch fehlende Zulassung, sondern auch darüber aufzuklären, dass unbekannte Risiken derzeit nicht auszuschließen sind.[112]
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