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Das Völkerrecht enthält eine Vielzahl von Normen, die sich mit der medizinischen Forschung befassen.[21] Den historischen Ausgangspunkt bildet der von dem aus drei Richtern bestehenden Gericht des Nürnberger Ärzteprozesses aufgestellte Nürnberger Kodex, der zwar unter dem Eindruck der während der Herrschaft der Nationalsozialisten durchgeführten grausamen Menschenversuche entstand, aber durchaus auch künftigen, für ethisch vertretbar erachteten Forschungsvorhaben den Weg ebnen sollte. Aus heutiger Sicht sind die Regelungen des Kodex teilweise zu strikt, zum Teil aber auch zu permissiv formuliert; ihre Aussagekraft ist daher limitiert.[22] Eine ungemindert aktuelle Bedeutung kommt demgegenüber etwa dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)zu, der von der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1973 ratifiziert wurde und den Rang eines (einfachen) Bundesgesetzes hat. Ausgehend vom Verbot der Folter und grausamer, unmenschlicher sowie erniedrigender Behandlung oder Strafe verlangt Art. 7 S. 2 IPbpR die freiwillige Zustimmung der Teilnehmer an medizinischen und wissenschaftlichen Versuchen.[23]
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Bei der Biomedizinkonventionhandelt es sich um ein 1997 vom Europarat verabschiedetes Rahmenübereinkommen. Völkerrechtliche Verbindlichkeit erlangt das Abkommen nur für diejenigen Staaten, die es unterzeichnet und ratifiziert haben.[24] Da man den Schutz, den die Konvention Einwilligungsunfähigen einräumt, für unzureichend erachtete, wurde sie von Deutschland bislang nicht gezeichnet; als Referenzrahmen kann ihr allerdings durchaus Bedeutung im europäischen Rechtsetzungsverfahren zukommen.[25] Derzeit existieren vier Zusatzprotokolle, welche die Konvention für unterschiedliche medizinische Teilbereiche konkretisieren und detailliertere Vorschriften, beispielsweise zur Aufklärung der Forschungsteilnehmer, enthalten.[26]
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Standes- und berufsrechtliche Überzeugungen der Ärzteschaft zur medizinischen Forschung[27] sind in der 1964 vom Weltärztebund verabschiedeten und seitdem mehrfach revidierten Deklaration von Helsinki (DvH)normiert.[28] Inzwischen liegt die DvH in einer im Rahmen der 64. Generalversammlung des Weltärztebundes im Oktober 2013 in Fortaleza verabschiedeten zehnten Fassung vor.[29] Ziel der Deklaration von Helsinki ist es, die Qualität der Forschung und eine ausreichende Qualifikation der Forscher sicherzustellen.[30] Sie entfaltet zwar keine unmittelbare rechtliche Bindungswirkung in Deutschland; ihre Bedeutung als allgemeiner ethischer Referenzstandard sollte jedoch nicht unterschätzt werden,[31] und das Berufsrecht der Ärzteschaft nimmt sie in § 15 Abs. 3 MBO-Ä (bzw. in den wortgleichen Bestimmungen der Berufsordnungen der Landesärztekammern) in Bezug.[32] Zu berücksichtigen ist etwa auch, dass Ziff. 36 der DvH empfiehlt, Berichte über Forschungsprojekte, die den Grundsätzen der Deklaration zuwiderlaufen, von der Veröffentlichung auszuschließen. Richten sich maßgebliche Fachzeitschriften hiernach, so ist die Präsentation von Forschungsergebnissen, die unter Verstoß gegen Grundsätze der Deklaration gewonnen wurden, gegenüber der Öffentlichkeit zumindest stark erschwert.
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Bestimmungen zum Zulassungsverfahren bei klinischen Arzneimittelprüfungen finden sich in den ICH-Richtlinien(International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use). Die Vorschriften gehen auf die Zusammenarbeit von europäischen, amerikanischen und japanischen Regulierungsbehörden mit Experten der Pharmaindustrie zurück und sollen zu einer Harmonisierung wissenschaftlicher und technischer Aspekte der Zulassung in den vorerwähnten Regionen beitragen.[33] Die Richtlinien des gemeinsam von der WHO und der UNESCO errichteten Council for International Organizations of Medical Sciences ( sog. CIOMS-Richtlinien) dienen der Koordination der wissenschaftlichen Interessen der internationalen biomedizinischen Gemeinschaft.[34] Schließlich ist noch die ICTRP-Initiative(International Clinical Trials Registry Platform) der WHO zu erwähnen. Sie basiert auf einer Resolution aus dem Jahr 2005, zielt auf eine Standardisierung klinischer Verfahren sowie die Sicherstellung transparenter Strukturen ab und sieht die Vergabe einer weltweit gültigen Referenznummer (Universal Trial Reference Number) vor.[35]
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Von der Regulierung der klinischen Forschung durch die Europäische Union geht oftmals – nicht zuletzt vermittelt über die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung nationaler Umsetzungsakte[36] – ein starker Einfluss auf die Rechtsanwendung in Deutschland aus. Deshalb ist im Folgenden kurz auf den Inhalt der maßgeblichen europarechtlichen Regelungeneinzugehen.[37]
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Aktuelle rechtspolitische Bedeutung kommt vor allem der Verordnung (EU) Nr. 536/2014des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG[38] zu, die nach der zwischenzeitlich erfolgten Feststellung der Funktionsfähigkeit des EU-Portals durch die Europäische Kommission am 31. Januar 2022 an die Stelle der vorerwähnten Richtlinie treten wird.[39] Die VO (EU) Nr. 536/2014 gilt unmittelbar in allen Mitgliedstaaten, wobei durch entsprechende Öffnungsklauseln Spielräume für die nationale Ausgestaltung eröffnet sind.[40] Einen wesentlichen Grund für die Unterbreitung eines Regelungsvorschlages durch die Europäische Kommission bildete der stetige Rückgang klinischer Studien innerhalb der EU, der u.a. auf die divergierende Umsetzung der EU-Richtlinie 2001/20/EG in den Mitgliedstaaten zurückgeführt wurde.[41]
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Vor diesem Hintergrund zielen die mit der Verordnung verabschiedeten Änderungen vor allem auf Vereinheitlichungen und Erleichterungen des Genehmigungsverfahrensab.[42] Während beispielsweise der Sponsor einer klinischen Prüfung in Deutschland seinen Antrag bislang sowohl an die Arzneimittelbehörde als auch an die Ethikkommission richten und mit beiden Institutionen über die von diesen für erforderlich erachteten Modifikationen verhandeln muss (vgl. §§ 40 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 1 und Abs. 2 AMG), sieht die Verordnung die Einrichtung eines zentralen EU-Einreichungsportales vor, das als kommunikative Schnittstelle für das Genehmigungsverfahren fungieren soll (vgl. Art. 80). Die Kommunikation findet somit zukünftig nicht zwischen dem Antragsteller und einzelnen Institutionen statt; vielmehr erhalten alle Beteiligten ihre Informationen durch das EU-Portal. Hierdurch soll ermöglicht werden, dass ein Antrag gleichzeitig an mehrere Mitgliedstaaten übermittelt wird.[43] Vor allem nichtkommerziellen Sponsoren multizentrischer klinischer Prüfungen dürfte die Abwicklung des Informationsverkehrs über das EU-Portal entgegenkommen, da hierdurch die Ansammlung und Umwälzung von Papierbergen vermieden werden kann.[44] Zudem soll das Genehmigungsverfahren mithilfe strenger und knapp bemessener Fristenregelungen deutlich beschleunigt werden;[45] hinzu kommen Instrumente wie die stillschweigende Genehmigung nach Fristablauf sowie die Fiktion der Antragsrücknahme durch Schweigen (Art. 8 Abs. 6, 5 Abs. 5 UAbs. 4).[46] Um mehr Transparenz zu schaffen, soll eine öffentlich zugängliche EU-Datenbank[47] eingerichtet werden, die sämtliche relevante Daten bezüglich der klinischen Prüfung (einschließlich der Prüfungsergebnisse und des Studienabschlussberichtes) umfasst, sofern es sich nicht um personenbezogene oder anderweitig geheimhaltungsbedürftige Daten handelt (vgl. Art. 81).[48]
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Die Verordnung sieht eine Reihe von Übergangsbestimmungen vor (Art. 98); sie entfaltet ihre Geltung erst sechs Monate, nachdem die Kommission im Amtsblatt der Europäischen Union ihre Überzeugung von der vollständigen Funktionsfähigkeit des Clinical Trials Information System (CTIS) kundgetan hat (vgl. Art. 99 UAbs. 2 i.V.m. Art. 82 Abs. 2). Nachdem das Management Board der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medicines Agency, EMA) am 21. April 2021 ein positives Votum abgegeben hat und die erforderliche Mitteilung der Kommission am 31. Juli 2021 im Amtsblatt veröffentlicht worden ist, sind die Geltungserlangung der Verordnung und die Freischaltung des CTIS für den 31. Januar 2022 vorgesehen.[49] Zur Umsetzung der mit der Verordnung verbundenen Änderungen in das nationale Recht hat der Bundesgesetzgeber bereits am 20. Dezember 2016 das Vierte Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften(4. AMG-ÄndG)[50] verabschiedet. Ein Teil der Vorschriften dieses Gesetzes ist am 24. Dezember 2016 in Kraft getreten; andere Neuregelungen treten erst zu dem Zeitpunkt in Kraft, in dem die VO (EU) 536/2014 Geltung erlangt.[51] Auch die sog. GCP-Verordnung (ausf. dazu Rn. 18) wird mit der Geltungserlangung der VO (EU) 536/2014 für die in deren Anwendungsbereich fallenden klinischen Prüfungen ersatzlos entfallen;[52] dies gilt nicht für klinische Prüfungen mit Blut- und Gewebezubereitungen, auf die sowohl das AMG in seiner bisherigen Fassung als auch die GCP-Verordnung bis zum 23. Dezember 2024 weiterhin Anwendung finden wird (vgl. § 148 Abs. 3 AMG n.F.).[53] Bis zum Inkrafttreten der Neuregelungen richtet sich die Zulassung klinischer Prüfungen weiterhin nach dem AMG und der GCP-Verordnung in ihrer derzeitigen Fassung, die im hier behandelten Zusammenhang maßgeblich auf die Umsetzung der bereits erwähnten EU-Richtlinie 2001/20/EG zurückgeht.[54] Als Umsetzungsakte sind die einschlägigen Vorschriften im Lichte dieser Richtlinie auszulegen.[55]
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