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Bei einem im Krankenhaustätigen Arzt ist zu berücksichtigen, dass seine Garantenstellung bereits aus seiner Einbindung in die Krankenhaus-Organisation als Einrichtung der Daseinsvorsorge[347] folgt: Da diese Einrichtung gegenüber den von ihr aufgenommenen Patienten die – zu delegierende – Verpflichtung zur Heilbehandlung übernommen hat, wächst dem dort tätigen Arzt infolge der internen Verantwortungsverteilung eine Garantenstellung für alle in seinem Zuständigkeitsbereich aufgenommenen Patienten zu.[348] Dies gilt zumindest dann, wenn er nach der Krankenhausorganisation zum Dienst eingeteilt ist.[349] Einer Übernahme der Behandlung durch ihn selbst bedarf es zur Pflichtenbegründung dann nicht. – Entsprechendes gilt für den Notarztals Teil[350] des öffentlich-rechtlich organisierten Rettungsdienstes.
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Bei einem Bereitschaftsarztist hingegen mit Roxin [351] zu differenzieren: Nur bei Patienten, die bereits bei einem anderen Arzt in Behandlung sind, übernimmt er in deren Vertretung ihre Schutzfunktion, während in den übrigen Fällen für ihn keine Garantenstellung besteht, so dass nur Strafbarkeit nach § 323c StGB in Betracht kommt.
bb) Behandlungsbeendigung
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Hat ein Arzt hingegen mit der Behandlung des Patienten bereits begonnen, so besteht für ihn nur die Möglichkeit, diese Behandlungzu beenden. Seine zur weiteren Behandlung verpflichtende Garantenstellung erlischt nämlich, sofern er gegenüber dem Patienten erkennbar die weitere Behandlung verweigert: Da die ärztliche Garantenstellung auf dem Vertrauen des Patienten beruht, ab Behandlungsübernahme fachkundige ärztliche Hilfe zu erhalten (so dass er auf andere ärztliche Hilfe verzichten kann), ist dieses garantenpflichtbegründende Vertrauen von diesem Zeitpunkt an nicht mehr schutzwürdig.[352] Allerdings ist dem Arzt zum Schutze des ihm ursprünglich vertrauenden Patienten die Beendigung seiner Garantenstellung zur Unzeit verwehrt,[353] also insbesondere dann, wenn ein Notfall eintritt und der Patient gar keine Zeit mehr hätte, sich zur Abwendung von Lebensgefahren oder Gefahren erheblicher körperlicher Beeinträchtigungen (zu denen auch starke Schmerzzustände zu zählen wären), an einen anderen Arzt zu wenden.[354]
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Außerdem hat der Arzt seinen Patienten durch entsprechende Information die Gelegenheit zu bieten, diese Leistung ggf. als Selbstzahlerin Anspruch zu nehmen.[355] Der Patient erfährt mithin dadurch Schutz, dass die in Bezug auf seine Gesundheitsgüter für ihn herabgesetzten Behandlungsmöglichkeiten durch eine Erweiterung der Aufklärungslasten zur Sicherung seiner Selbstbestimmung über eben diese Güter kompensiert werden.[356] Sollte sich ein pflichtversicherter Patient diese Eigenfinanzierung nicht leisten können, so würde sich eine vom Gemeinsamen Bundesausschuss verfügte Behandlungseinschränkung für ihn als faktische Behandlungsgrenze erweisen. Auch dies würde aber keinen (Fort-)Behandlungsanspruch des Patienten begründen. Es wäre vielmehr eine sozialgerichtliche Überprüfung derartiger Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (Stichwort: Angemessenheit von Leistung [Sozialversicherungsbeitrag] und Gegenleistung [medizinische Versorgung]) geboten.[357]
cc) Suboptimale Behandlung ohne Einwilligung des Patienten
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Würde der Arzt infolge fehlender Erstattungsmöglichkeit heimlichvon der im Einzelfall vom Facharztstandard geforderten Heilbehandlung auf eine suboptimale Behandlung ausweichen, so käme Strafbarkeit unter zwei Gesichtspunkten in Betracht.[358] Zum einen könnte er sich als Unterlassungstäter nach den §§ 222/212, 13 bzw. §§ 229/223, 13 StGB strafbar machen (sofern die Kausalität seines Unterlassens feststellbar sein sollte).[359] Zum anderen droht ihm aber auch Strafbarkeit nach § 223 StGB, da die Einwilligung seines Patienten in die durchgeführte Heilbehandlung infolge unzureichender Aufklärung unwirksam wäre: Den Arzt trifft nämlich auch eine Aufklärungspflicht über denkbare gesundheitsrelevante Behandlungsalternativen,[360] sofern diese den Patienten unterschiedlich belasten oder sich vom Risiko und ihren Erfolgschancen her deutlich unterscheiden. Sollte die nicht konsentierte suboptimale Heilbehandlung dann gar den Tod des Patienten zurechenbar verursachen, dann käme jedenfalls nach der überwiegenden Auffassung, die bei der Körperverletzung mit Todesfolge auf einen sog. Letalitätszusammenhang verzichtet,[361] sogar Strafbarkeit nach § 227 StGB in Betracht. – Ist ein Patient finanziell in der Lage, in der GKV ausgeschlossene Gesundheitsleistungen selbst zu finanzieren, so ist ärztliche Strafbarkeit dann anzunehmen, wenn er dem Patienten eine Behandlungsmöglichkeit von höherem Nutzen verschweigt: strafbar nach § 223 StGB, da die durchgeführte Behandlung mangels hinreichender Aufklärung keine wirksame Einwilligung erfährt.[362]
dd) Suboptimale Behandlung mit Einwilligung des Patienten
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Stimmtder hinreichend aufgeklärte Patienthingegen einer suboptimalen Heilbehandlung zu, so entfällt eine Strafbarkeit des Arztes (siehe Rn. 73, 135 ff.).[363]
ee) Verdeckte Rationierung durch ärztliche Indikation
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Soweit es im vorliegenden Zusammenhang um die Nichtdurchführung einer ärztlichen Maßnahme geht, ist darauf hinzuweisen, dass eine entsprechende Garantenpflichtdes Arztes nur für ärztlich indizierte Maßnahmengilt. Insoweit habe ich an anderer Stelle[364] ausgeführt, dass die – von der jeweiligen Zielstellung abhängige – Indikationsstellung des Arztes vor die Prüffolie rechtlicher Anforderungen zu stellen ist, wenn ärztlicherseits zunehmend Überlegungen einbezogen werden, die über das Schicksal des betroffenen Patienten hinausgehen und damit eben nicht mehr ausschließlich am Patientenwohl orientiert sind. Dass gerade auch beim Einschluss wirtschaftlicher Überlegungen in ärztliche Therapieentscheidungen – unabhängig davon, ob es sich um offene oder verdeckte Rationierungen[365] handelt – die Basis eines objektiv-naturwissenschaftlich verstandenen Indikationenbegriffs verlassen wird und die Kontrollfunktion des Rechts herausgefordert ist,[366] dürfte sich von selbst verstehen. Offenbleiben muss hier allerdings die Beantwortung der Frage, wie auch insoweit angesichts der grundgesetzlichen Schutzgarantie für Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 GG) bindungsloser ärztlicher „Freiheit“ gegengesteuert werden kann, ohne umgekehrt durch eine übermäßige rechtliche Detailsteuerung überzureagieren und ärztlichen Entscheidungsspielraum auch bei der Indikationsstellung als mehrdimensionalen Prozess übermäßig und damit letztlich auch patientenschädlich einzuengen. Es wird Aufgabe der zukünftigen Diskussion sein, gerade auch im Zusammenhang mit Behandlungsbeschränkungen aus wirtschaftlichen Gründen den allein auf Beurteilungsfehler zu überprüfenden, spezifisch ärztlich zu verantwortenden, Beurteilungsspielraum festzulegen.
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(1) Allerdings ist für die Zukunft durchaus zu erwarten, dass die ärztliche Indikationsstellung unter den Druck wirtschaftlicher Überlegungen(Stichwort: sachgerechter Einsatz der beschränkten Ressourcen)[367] geraten und zum Mittel verdeckter Rationierung am Krankenbett mutieren könnte.[368] Dass dies keine völlig voreilige Perhorreszierung ist, sei durch eine ärztliche sowie juristische Fundstelle belegt: So hat Oehmichen (Arzt) ausgeführt, dass „(die Behandlungsindikation) letztlich determiniert (wird) vom individuellen Krankheitszustand und der Prognose, von der kollektiven Erfahrung, von medizinischen Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie sowie von personellen, organisatorischen, institutionellen und ökonomischen Bedingungen der gesamten Gesellschaft.“[369] P. Kirchhof (Jurist) führt in entsprechender Richtung aus: „Auch Faktoren außerhalb der direkten Arzt-Patienten-Beziehung beeinflussen das ärztlich Indizierbare: Gesellschaftliche Gegebenheiten wie Verfügbarkeit von Ressourcen, Finanzierbarkeit und somit das Prinzip der ‚Gerechtigkeit‘ dürfen nicht vernachlässigt werden. Damit wäre es notwendig, in der Indikationsstellung die ‚Kultur des Maßes‘ neu zu entdecken.“[370] Derartige Rationierungserwägungen erfahren Verstärkung durch das arztethische Prinzip der Wahrung von Gerechtigkeit, hier verstanden als Sicherung des Teilhaberrechts zukünftiger Patienten an medizinischen Leistungen. Schließlich: „Gegen Finanzengpässe lässt sich nicht juristisch anargumentieren.“ ( Isensee ).[371]
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