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Auch bei einer durch Allokationsentscheidungen auf höherer Ebene bewirkten Herabsetzung des ärztlichen Standards sind zum Schutze des Patienten unverzichtbare Standarduntergrenzeneinzuhalten, deren Bestimmung allerdings schwierig genug sein dürfte.[304] Auch im Bereich der zivilrechtlichen Produkthaftung – um diese Konstellation als Vergleich heranzuziehen – wird ja i.Ü. zurecht eine gewisse Basissicherheit eingefordert.[305] Da im Bereich der Heilbehandlung Standardunterschreitungen für den Patienten regelmäßig weder erkennbar noch kompensierbar sind, kann man hierauf auch im Bereich der strafrechtlichen Arzthaftung nicht verzichten.
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Anders sollte hingegen die Frage beurteilt werden, welche entfernten Restrisikenein Arzt bei seiner Behandlung zulässiger Weise in Kauf nehmen darf: Bei einer Entscheidung bspw. über die Durchführung weiterer diagnostischer Maßnahmen zur Abklärung eines entfernten Risikos kann der wirtschaftliche Aufwand, z.B. für Anomaliefeststellungen, mitberücksichtigt werden.[306] Dass die Zuschreibung einer Sorgfaltspflichtverletzung auch die Kosten gefahrabwendender Sorgfaltsmaßnahmen gegengewichtend einbezieht, ist jedenfalls dem zivilrechtlichen Deliktsrecht bei seiner Bestimmung des Umfangs der Verkehrspflichten nicht fremd.[307] Dies sollte auch für die zukünftige arztstrafrechtliche Betrachtung maßgebend sein.
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Insoweit sei abschließend bemerkt, dass eine Begrenzung finanzieller Ressourcen auf Dauer auch den sog. Facharztstandard ( Rn. 12 ff.) beeinflussen dürfte, da für seine Herausbildung ja nicht nur der medizinischen Wissenschaft, sondern auch der Anerkennung einer bestimmten Verfahrensweise in der Praxis maßstabsbildende Kraft zukommt.[308]
f) Gleichklang von Sozialversicherungsrecht und Strafrecht
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Als Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass jedenfalls gegenwärtig kein Spannungsverhältniszwischen den gesetzlichen Vorgaben des Sozialrechts(SGB V), dem medizinischen (Mindest-) Standardsowie dem an diesen Mindeststandard anknüpfenden (strafrechtlichen) Haftungsrechtbesteht, da sich der Versorgungsauftrag der gesetzlichen Krankenversicherung ungeachtet der erforderlichen Kostendämpfungsmaßnahmen dem medizinisch Notwendigen und Ausreichenden nach wie vor verpflichtet sieht,[309] vgl. § 12 SGB V: Nach dem dort statuierten Wirtschaftlichkeitsgebot müssen ärztliche Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Für die Krankenbehandlung bestimmt § 27 SGB V, dass Versicherte einen Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
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Durch die sozialversicherungsrechtlichen Vorgabenfür eine wirtschaftliche Krankenbehandlung werden strafrechtsrelevante ärztliche Sorgfaltspflichten nicht verschoben.[310] Da der Kassenarzt gemäß § 76 Abs. 4 SGB V bei seiner Krankenbehandlung zur Einhaltung der Sorgfalt nach den Vorschriften des bürgerlichen Vertragsrechts verpflichtet ist, zusätzlich auch gemäß § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V die Qualität kassenärztlicher Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Kenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen hat, und nicht zuletzt gemäß § 70 Abs. 1 S. 1 SGB V die Leistungserbringer (Ärzte) eine dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten haben, besteht gar kein – ggf. zu Lasten des Arztes zu lösendes – Spannungsverhältnis zwischen dem Sozial- und dem Haftungsrecht:[311] Der aus dem medizinischen Standard abgeleitete Sorgfaltsmaßstab der Fahrlässigkeitbildet die Grenze des Wirtschaftlichkeitsgebotes, nicht umgekehrt.[312] Da der an die medizinische Wissenschaft und Praxis anknüpfende, aber eben juristisch zu fixierende Sorgfaltsmaßstab dem Rechtsgüterschutz des Patienten verpflichtet ist, verbietet sich ein Unterschreiten des jeweils anzuwendenden („Behandlungskorridor“) medizinischen Behandlungsstandards aus Kostengründen.[313] Ob der Rechtsanwender zukünftigdem ärztlichen Standard die Gefolgschaft zu versagen hätte, sofern Behandlungseinschränkungen aus Kostengründen in die ärztliche Selbstdefinition dieses Standards Eingang fänden (etwa in Form sog. kostensensibler Leitlinien[314]), erscheint nur für den Fall vorgezeichnet,[315] dass bestimmte Behandlungen ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen – ggf. noch unter Heranziehung verfassungsrechtlich höchst zweifelhafter Kriterien wie etwa dem des Lebensalters[316] – abgelehnt werden sollten. Da aber die Ärzte „der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung (dienen)“ – so der in die, die Ausübung des Arztberufs regelnden, Berufsordnungen der Länder übernommene § 1 Abs. 1 der ärztlichen Muster-Berufsordnung 2006[317] – wird weiter zu ergründen sein, ob – ähnlich der nur eingeschränkt überprüfbaren ärztlichen Indikation – entsprechende, von der medizinischen Profession entwickelte Vorgaben einer Berücksichtigung wirtschaftlicher Belange jedenfalls dann vom Recht zu akzeptieren sind, wenn sie die Behandlungsentscheidung letztlich einer primär am Wohle des Patienten ausgerichteten ärztlichen Gesamtabwägung überlassen.[318]
g) Fehlende Finanzierung bei SGB-Ausschluss einer Maßnahme
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Werden hingegen bestimmte Behandlungsformen von der sozialversicherungsrechtlichen Erstattung ausgenommen, so wird dies für den Haftungsmaßstab bedeutsam. Da nämlich gemäß § 92 Abs. 1 SGB V entsprechende Richtlinien[319] bzw. ein fehlendes Positiv-Attest gemäß § 135 Abs. 1 S. 1 SGB V[320] des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen den sozialgesetzlichen Leistungskatalog verbindlich konkretisieren und damit das der Behandlung zugrunde liegende vertragliche[321] Arzt-Patienten-Verhältnis gestalten,[322] besteht keine entsprechende Behandlungspflicht des Arztes.[323] Zwar werden weder der zivil- noch der strafrechtliche Haftungsstandard durch den sozialversicherungsrechtlichen Leistungskatalog abgesenkt.[324] Dies verbietet der hohe Rang der beim Patienten auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter (Leben, Körper und Gesundheit).[325] Da es nicht Aufgabe des Arztes sein kann, die finanziellen Ungleichheiten einer (insoweit!) Zwei-Klassen-Medizin auszugleichen, kann vom behandelnden Arzt eine unentgeltliche Durchführung von Behandlungsmaßnahmen, die rechtswirksam aus dem sozialgesetzlichen Leistungskatalog ausgegrenzt worden sind, nicht verlangt werden kann.[326] Die Fahrlässigkeitsverantwortung des Strafrechts kann schwerlich eine Privatperson zur kostenfreien Vornahme einer „Sozialleistung“ verpflichten, welche die Gesellschaft als solche sich nicht (mehr) leisten will.[327] Dies gilt wohl auch für Behandlungsmaßnahmen außerhalb des medizinischen Standards bei austherapierten Schwer-Erkrankten, da § 2 Abs. 1a SGB V[328] für derartige Fälle lediglich einen gegen die GKV gerichteten Anspruch des Patienten auf Kostenübernahme, aber keine kassenärztliche Verpflichtung zur Anwendung einer (jedenfalls noch[329]) nicht dem medizinischen Standard entsprechenden Behandlung statuiert.[330] Somit verbleibt nur[331] der nachfolgend skizzierte Ausweg, der im Anschluss an Dannecker/Streng [332] sowie Bohmeier/Schmitz-Luhn/Streng [333] zwischen einer Behandlungsverweigerung und einer standardunterschreitenden Behandlung differenziert.[334]
aa) Keine Behandlungsübernahme
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Sofern durch die bereits erwähnten Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses bestimmte Therapieformen ausgeschlossen sind, so hat dies – jedenfalls vor Übernahme der Behandlung[335] – durchaus Auswirkung auf eine entsprechende Behandlungspflicht des niedergelassenenArztes.[336] Da von ihm eine unentgeltliche Durchführung von Behandlungsmaßnahmen, die rechtswirksam aus dem sozialgesetzlichen Leistungskatalog ausgegrenzt worden sind, nicht verlangt werden kann, besteht für ihn keineentsprechende Behandlungspflicht.[337] Für die strafrechtliche Garantenstellungkommt es ja grundsätzlich weder auf die Niederlassung als sozialrechtlich behandlungspflichtiger Vertragsarzt[338] noch auf den – eventuell vor der Behandlungsübernahme liegenden[339] – Zeitpunkt des Abschlusses eines zivilrechtlichen Behandlungsvertrags an; auch eine diskriminierende Behandlungsablehung unter Verstoß gegen § 19 Abs. 2 AGG führt – von Notfällen (dann § 323c StGB) abgesehen – angesichts der für ihn zivilrechtlich bestehenden Vertragsabschlussfreiheit nicht zu einer Strafbarkeit des Arztes.[340] Entscheidend für die ärztliche Einstandspflicht als Garant[341] kraft faktischer Übernahme[342] ist vielmehr die tatsächliche Übernahme[343] der Behandlung (etwa durch den Untersuchungsbeginn[344]).[345] Dieses Zurückbleiben des Strafrechts hinter den Vorgaben des Sozialversicherungsrechts sowie des Zivilrechts ist angesichts des ultima-ratio-Gebots für den Einsatz des strafrechtlichen Instrumentariums auch legitim.[346]
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