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Anders stellt sich für den nicht gemäß ärztlichem Standard behandelnden Arzt allerdings seine zivilrechtlicheVerantwortlichkeit dar, sofern diese (Nicht-)Behandlung als sog. grober Behandlungsfehler[274] einzustufen ist: Dann trifft – so der Bundesgerichtshof in Zivilsachen in Fortsetzung der Rechtsprechung des Reichsgerichtes – den Arzt die Beweislast für die Nichtursächlichkeit eines von ihm schuldhaft begangenen Fehlers, sofern dieser grobe Behandlungsfehler geeignet ist, einen Schaden der eingetretenen Art herbeizuführen.[275] Derartige – auch in der zivilrechtlichen Literatur nicht unumstrittene[276] – Beweislast-Sonderregelungen verbieten sich für den Bereich des Strafrechts von Vornherein.
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Ergänzend sei angemerkt, dass der Arzt – sollte der Kausal- und Zurechnungszusammenhang mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden können – sich nicht darauf berufen kann, dass ein infolge seiner Pflichtwidrigkeit nicht eingeschalteter Dritter (also etwa ein medizinischer Spezialist) sich ebenfalls und gleichermaßen pflichtwidrig aus Kostengründen nicht an der gebotenen Behandlung beteiligt hätte. Selbst wenn hierin ein zutreffender Hinweis auf eine entsprechende ärztliche Praxis läge, so kann sich der Arzt, um dessen strafrechtlich relevantes Unterlassen es geht, nicht dadurch entlasten, dass er sich auf eine mögliche zusätzliche Pflichtwidrigkeit eines Drittenberuft: Auch sonst wird bei Feststellung der Kausalität des Unterlassens davon ausgegangen, dass der pflichtwidrig nicht eingeschaltete Dritte seine Pflicht – so er denn eingeschaltet worden wäre – erfüllt hätte.[277] Der Unterlassungstäter hat aber durch seine eigene Pflichtwidrigkeit dem Dritten gerade keine Gelegenheit zur Pflichterfüllung gegeben. Insoweit ist mit Puppe [278] auch auf die Lederspray-Entscheidung des Bundesgerichtshofs hinzuweisen, in der der Senat im Ergebnis zutreffend auf Grund normativer Wertung zu dem Ergebnis gelangte, dass im Falle der Mehrfachkausalität die Täter sich nicht gegenseitig dadurch entlasten konnten, dass sie sich jeweils auf die Pflichtwidrigkeit des anderen Gremienmitgliedes beriefen.[279]
d) Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung
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Eine Strafbarkeit wegen Verstoßes gegen § 323c StGBsoll hier nicht weiter behandelt werden, wird es doch insoweit häufig – jedenfalls auf Basis der Rechtsprechung[280] – selbst bei einer schweren Erkrankung an einem „Unglücksfall“ fehlen, sofern es sich nicht um eine plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten, sondern „nur“ um dessen vom – wie auch immer zu bestimmenden – gesundheitlichen Normalzustand abweichenden, konstanten Krankheitsstatus handelt.[281] Anders wäre hingegen dann zu entscheiden, wenn es sich um eine Krisensituation handelt, bei der infolge eines sich plötzlich verschlimmernden Krankheitsverlaufs oder bei unerträglich werdenden Schmerzen ein sofortiges Eingreifen erforderlich ist.[282] Im Übrigen bleibt zu beachten, dass in diesen Fällen (ärztliche) Hilfe[283] auch dann geleistet werden muss (Schmerzbekämpfung),[284] wenn sie letztlich vergeblich bleibt und sich die zu befürchtende Verschlechterung des Gesundheitszustands des Patienten aus der Rückschau als von Anfang an unabwendbar erweist;[285] der Umstand, dass der Tod des Patienten von vornherein nicht abgewendet werden kann, schließt die Erforderlichkeit ärztlicher Hilfeleistung (Maßnahmen zur Schmerzlinderung) nicht aus.[286] Die Hilfspflicht entfällt allerdings, sobald der Tod des Verunglückten eingetreten ist.[287] Die „bei“ einem Unglücksfall erforderliche Hilfeleistungspflicht kann auch für einen ortsabwesenden,[288] um telemedizinische Hilfe gebetenen Arzt bestehen.[289]
e) Behandlungsschranken und Relativität des Standards
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Der vom (Straf-)Recht rezipierte medizinische Standard[290] verschließt sich vom Ansatz her keineswegs differenzierenden Überlegungen, bestimmt er sich doch unterschiedlich je danach, welche Kenntnisse, Fertigkeiten und Ressourcen (personeller wie auch apparativer Art) im jeweiligen Verkehrskreis des Arztes vorauszusetzen sind (siehe Rn. 38).[291] So ist an die apparative Ausstattung eines Universitätskrankenhauses ein höherer Maßstab anzulegen als an diejenige eines Kreiskrankenhauses, ein Allgemeinmediziner muss auch von Rechts wegen nicht über die Fachkenntnisse verfügen, die an einen Spezialisten, etwa in einer Universitätsklinik, zu stellen sind.[292] Die Anforderungen an sorgfaltsgemäßes ärztliches Verhalten unterscheiden sich mithin je nach Fachausbildung des Arztes sowie den dem Arzt zur Verfügung stehenden persönlichen und sachlichen Mitteln.[293] Der haftungsrechtlich zu fordernde Standard ignoriert ökonomische Zwänge nicht.[294] Generelle, d.h. durch Entscheidungen auf der Ebene der Makro-Allokation bewirkte, Defizite im Gesundheitssystem dürfen nicht auf den behandelnden Arzt abgewälzt werden:[295] So kann keineswegs überall und zu jeder Zeit eine optimale Versorgung, die modernste Technik oder die beste Ausstattung verlangt werden;[296] für eine Übergangszeit kann aus Kostengründen auf die Anschaffung technischer Neuerungen verzichtet und nach der altbewährten, noch nicht verbesserten Methode vorgegangen werden.[297] Entsprechende Qualitätsunterschiede sind unschädlich, solange ein zwar nicht optimaler, aber noch ausreichender medizinischer Standard erreicht wird:[298] Eine medizinisch mögliche, aber unbezahlbare Maximaldiagnostik und -therapie bestimmt nicht den an ärztliches Verhalten anzulegenden Sorgfaltsmaßstab. Bereits das zivilrechtliche Haftungsrechthat sich bei der Bestimmung des ärztlichen Sorgfaltsmaßstabes wirtschaftlichen Gesichtspunkten keineswegs verschlossen. Dies sei durch einen Blick auf einige wenige Beispiele belegt: Die personelle Ausstattung eines Entbindungsteams in einem Kreiskrankenhaus muss nicht die Qualität aufweisen, die für schwere Fälle bei einem Perinatalzentrum erwartet werden darf.[299] Das Fehlen neuester apparativer Ausstattung in einem Krankenhaus für Allgemeinversorgung begründet – ebenfalls nach Auffassung des Bundesgerichtshofs – keine Haftung, da eine dem jeweiligen Stand der Medizin entsprechende Therapie nicht zur Voraussetzung habe, dass jeweils das neueste Therapiekonzept verfolgt werden und eine auf den neuesten Stand gebrachte apparative Ausstattung eingesetzt werden müsste; schon aus Kostengründen könne nicht jede technische Neuerung, die den Behandlungsstandard verbessern könne, sofort von allen Kliniken angeschafft werden, so dass es für eine gewisse Übergangszeit gestattet sein müsse, nach älteren, bis dahin bewährten Methoden zu behandeln.[300] Ein letztes Beispiel: Im Hinblick auf die Bevorratung von Medikamenten hat der Bundesgerichtshof[301] durchaus Aspekte der Unwirtschaftlichkeit einer Vorratshaltung vom Ansatz her akzeptiert. Das auf Schadensersatz wegen der Herbeiführung einer Hepatitis-Infektion in Anspruch genommene Krankenhaus konnte sich hinsichtlich der Nichtanwendung eines nicht bevorrateten teureren Medikamentes aber hierauf nicht berufen, da das Medikament noch rechtzeitig hätte beschafft werden können. Somit kann mit Wagner festgehalten werden, dass wirtschaftliche Erwägungen in den (zivil-)rechtlichen Sorgfaltsstandard von vornherein eingebaut sind und nicht erst von außen an ihn herangetragen werden müssen.[302]
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Es sind demnach gewisse Behandlungsunterschiede auch vom (Straf-)Recht zu tolerieren, solange ein zwar nicht optimaler, aber eben noch ausreichender[303] medizinischer Standard erreicht wird. Bei der Feststellung sorgfaltsgemäßen Verhaltens besteht auch insoweit ein „ Behandlungskorridor“, innerhalb dessen der Arzt sich straffrei bewegen kann. Die Frage nach diesem noch ausreichenden medizinischen Standard im ökonomisch-juristischen Spannungsfeld dürfte die Rechtsprechung zukünftig verstärkt beschäftigen. Die gegenwärtige Rechtslage bietet dem Arzt jedenfalls relativ wenig Handlungssicherheit.
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