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Schließlich ist zu betonen, dass den Arzt umso höhere Informationspflichtentreffen, je mehr er vom Standardverfahren abweichen will ( Rn. 73).[169] Umgekehrt deckt dann aber der Konsens des Patienten nicht nur den vorsätzlichen Eingriff als solchen, sondern auch dessen ungewollte Folgen ( Rn. 138).
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Zum Schutze der durch ärztliche Tätigkeit tangierten hochrangigen Rechtsgüter des Patienten[170] kann Therapiefreiheit nur für medizinisch vertretbare Diagnose- und Therapieentscheidungen gelten; für andere Konstellationen (namentlich bei Anwendung von Außenseitermethoden, hierzu Rn. 31) und bei fehlendem Standard ist der Maßstab eines vorsichtigen Arztes anzulegen ( Rn. 36).[171] – Zur ggf. erforderlichen Aufklärung des Patienten über Behandlungsalternativen siehe Rn. 73sowie Rn. 135 ff.
bb) Sog. Außenseitermethoden[172]
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Zwar ist die lege artis-Durchführung einer Heilbehandlung nicht von vornherein auf die Anwendung sog. schulmedizinischer Maßnahmen beschränkt,[173] da dies weder mit dem Selbstbestimmungsrecht des (informierten!) Patienten[174] noch mit dem Grundsatz der Methodenfreiheit[175] zu vereinbaren wäre. Der fachärztliche Standard als Bezugspunkt der Sorgfaltspflichtverletzung stellt keine statische Größe dar ( Rn. 36). Die zu beachtenden Regeln lassen sich schon deshalb nicht auf einen einmal erreichten Standard festschreiben, da dies zu einer Blockierung jeder Fortentwicklung in der Patientenbehandlung führen müsste.[176] Umgekehrt würde aber die Öffnung des „Behandlungskorridors“ der Methodenfreiheit für Verfahren, die nur als Dilettantismus oder gar Okkultismus anzusehen sind, das körperliche und gesundheitliche Wohl des Patienten ebenso verfehlen.[177] Da der Arzt sich jedoch zunächst an die Regeln zu halten hat, die bereits als hinreichend erprobt gelten (vgl. § 630a Abs. 2 BGB: allgemein anerkannte fachliche Standards), so wird er erst dann, wenn ihm nachvollziehbar die „Standardbehandlung“ im Einzelfall als weniger erfolgversprechend oder gar schädlich erscheint, zu weniger anerkannten Verfahren greifen dürfen,[178] es sei denn, der vollinformierte Patient hätte sich bewusst für diese „ Außenseiterbehandlung“ entschieden.[179] Entsprechendes gilt, wenn eine ursprünglich „schulmedizinische“ Vorgehensweise ernsthaft angefochten wurde und ihre Anwendung nicht mehr als standardgemäß anzusehen ist. Generell gilt, dass der Arzt die von der Außenseitermethode (etwa der Homöopathie) zu erwartenden Vorteile mit möglichen Nachteilen besonders sorgfältig abzuwägen und den Verlauf seiner Behandlung kontinuierlich zu kontrollieren hat.[180] Hierbei hat er fortlaufend zu prüfen, ob die Anwendung der Außenseitermethode im Verhältnis zur Standard-Behandlung nicht doch ein unvertretbares Risiko darstellt.[181] Hierbei ist aber nicht isoliert auf den eventuell hinter der Wirksamkeit einer konventionellen Behandlungsmethode zurückbleibenden Heilerfolg abzustellen. Vielmehr sind auch gegengewichtend die Nebenwirkungen, die mit einer konventionellen Heilbehandlung verbunden wären, einzubeziehen.[182] Ein derartiger Methodenvergleich setzt hinreichende Sachkunde über das zu Vergleichende voraus. Der eine Außenseiterbehandlung Durchführende muss wissen, wie und mit welchen Erfolgsaussichten, aber auch Risiken die sog. Schulmedizin den Kranken im konkreten Einzelfall behandeln würde.[183] Bei der Anwendung der Außenseiterbehandlung hat der Arzt i.Ü. die Kriterien zu beachten, die von gewissenhaften Vertretern dieser Außenseitermethode allgemein anerkannt werden (sog. therapieinterner Standard).[184] Schließlich gilt auch hier, dass den Arzt umso höhere Informationspflichten treffen, je mehr er vom Standardverfahren abweichen will.[185] Diese Wechselwirkung zwischen Therapiewahl und Aufklärungspflicht lässt die Freiheit der Methodenwahl vom Ansatz her zurecht unangetastet (Selbstbeschränkung des Rechts), stellt sie aber in Wahrnehmung der Schutzfunktion des Rechts zugunsten des Patienten unter den Vorbehalt der Entscheidung des vom Arzt informierten Patienten.[186]
cc) Nicht-Anwendung sog. Außenseitermethoden
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Die Nichtanwendung einer Außenseitermethodewird im Regelfall schon deshalb keine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen einer durch dieses Unterlassen bewirkten Gesundheitsverschlechterung oder gar Lebensverkürzung nachsichziehen, da in der Regel der Nachweis nicht wird geführt werden können, dass eine entsprechende Behandlung diesen Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit[187] verhindert hätte (zur Kausalität siehe Rn. 154).[188] Aber selbst dann, wenn dieser Nachweis geführt werden kann, scheidet regelmäßig eine strafrechtliche Ahndung aus: Der für die Bestimmung sorgfaltswidrigen Verhaltens maßgebliche Facharztstandard ( Rn. 12 ff.) wird von den berechtigten Erwartungen des Patienten, die er an die Qualität und Leistungsfähigkeit des ihn behandelnden Arztes stellen kann, mitbestimmt. Diese sind (allerdings nur) im Regelfall auf eine der Schulmedizin entsprechende Behandlung gerichtet.[189] Auch kann von einem herkömmlich ausgebildeten Arzt angesichts seines schulmedizinischen Erfahrungshintergrundes regelmäßig nicht erwartet werden, sämtliche jenseits der Schulmedizin liegende Außenseitermethoden zur Behandlung von Erkrankungen zu beobachten und ihre Vor- und Nachteile zu erwägen. Anders stellt sich die Lage allerdings dann dar, wenn eine derartige (dann ja nur vormalige Außenseitermethode) auch aus Sicht der Schulmedizin zumindest ernsthaft wissenschaftlich diskutiert wird.[190]
dd) Fernbehandlung und Digitalisierung
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Eine – berufsrechtlich seit 2018 ausnahmsweise[191] zulässige[192] – ausschließliche ärztliche Fernbehandlung( Telemedizin)[193], bei der Beratung und Behandlung des Patienten mittels Kommunikationsmedien ohne unmittelbaren persönlichen Kontakt erfolgt, ist gegenwärtig dadurch gekennzeichnet, dass insoweit kein spezifischer Behandlungsstandard[194] existiert.[195] Geht die Fernbehandlung über die bloße Unterstützung einer vom unmittelbaren persönlichen Kontakt geprägten ärztlichen Tätigkeit hinaus, so ist – ebenso wie bei der Anwendung sog. Außenseitermethoden ( Rn. 31) – der Sorgfaltsmaßstab eines vorsichtigen Arztes einzuhalten.[196] Der Einsatz neuer Medien darf nicht mit Abstrichen beim rechtlichen Schutz des Patienten erkauft werden.[197] Deshalb behält die ältere Rechtsprechung[198] zur Fernbehandlung weiterhin ihre Gültigkeit, die insbesondere im Zusammenhang mit der Befunderhebung als Basis der Therapiewahl (Entsprechendes hat auch für eine gebotene Therapie-Änderung oder die Überweisung des Patienten an einen für das Krankheitsgeschehen besser gerüsteten Facharzt zu gelten) einen unmittelbaren Arzt-Patienten-Kontakt verlangt.[199] Gegenwärtig ist eine hinreichende körperliche Überprüfung von Symptomen per Telemedien nicht möglich;[200] auch wird ein reduzierter Bildschirm-Blick auf den Patienten seine ganzkörperliche Wahrnehmbarkeit durch den Arzt nicht wirklich ersetzen können.[201] Dieser Mangel bei der Befunderhebung stellt im Regelfall[202] auch strafrechtlich eine Verletzung der den Arzt treffenden Sorgfaltspflicht dar. – Wird ein mittels Telemedizin hinzugezogener Arztmangels einer das Behandlungsgeschehen beherrschenden Stellung nicht zum Mitbehandler, so gelten für sein Verhältnis zum ihn beiziehenden Arzt die allgemeinen Grundsätze der Arbeitsteilung von behandelndem Arzt und Konsiliar-Arzt,[203] so dass eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für Fehler des jeweils anderen angesichts des Vertrauensgrundsatzes ( Rn. 84 ff.) nur dann in Betracht kommt, wenn ein Fehler des jeweils anderen hätte erkannt werden müssen; dies wird nur bei einer offensichtlichen Fehlleistung der Fall sein.[204]
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