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Kann im Einzelfall ein etwa bestehendes Nebeneinander sich widersprechender Leitliniennicht im Sinne der Vorzugswürdigkeit einer Vorgabe ausgeräumt werden, so besteht eine arzthaftungsrechtliche Verpflichtung zur ärztlichen Aufklärung über Behandlungsalternativen: Immer dann, wenn die Medizin sich nicht auf eine Empfehlung verständigen kann, wird sich der Jurist dieser Situation beugen und auf die Steigerung der Aufklärungsanforderung auszuweichen haben.[124]
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Sofern (zukünftig) einschlägige EU-Richtlinienbei der Auslegung der bundesdeutschen Fahrlässigkeitstatbestände nach dem Gebot unionsrechtskonformer Auslegung konkretisierend heranzuziehen sind, gilt Entsprechendes: Ein von einer entsprechenden Richtlinie gestattetes Verhalten darf zwar vom Ansatz her auch bei entgegenstehenden deutschen Sondernormen – unabhängig davon, ob sie staatlich gesetzt oder nichtstaatlich „erlassen“ worden sind – grundsätzlich nicht als sorgfaltswidrig angesehen werden.[125] Da aber bei der Bestimmung der Sorgfaltswidrigkeit derartigen Sondernormen nur indizielle Bedeutung zukommt, darf ein von einer entsprechenden EU-Richtlinie gedecktes Verhalten dann zur Begründung einer Sorgfaltswidrigkeit herangezogen werden, wenn eindeutig erkennbar ist, dass richtlinienkonformes Verhalten zu einer Schädigung Dritter führen könnte.[126] Angesichts der lediglich indiziellen Funktion einer Zuwiderhandlung gegen eine aus dem Europarecht herzuleitende Sondernorm begründet ein Verstoß gegen ihre Vorgaben umgekehrt nicht zwangsläufig den Vorwurf objektiver Fahrlässigkeit.[127]
(6) Erkenntnisverschaffungspflicht
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Auch in Bezug auf Richt- und Leitlinien gilt – wie auch sonst bei der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit infolge eines Verstoßes gegen Sondernormen – der Grundsatz, dass die korrekte und gewissenhafte Erfüllung der auf den Inhalt rechtlicher Sorgfaltsanforderungen bezogenen Erkenntnisverschaffungspflicht(nur) für den Schuldbereich von Bedeutung ist: Insoweit ist zunächst auf Rn. 139 ff.zur fahrlässigen Tätigkeitsübernahme zu verweisen. – Bei unzureichenden Leitlinienwird dem Täter ein Schuldvorwurf (subjektive Fahrlässigkeit) nur dann zu machen sein, wenn sich ihm die Unzulänglichkeit dieser in Richt- und Leitlinien enthaltenen Vorgaben bei Berücksichtigung seiner persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten auch ohne besondere Nachprüfung hätte aufdrängen müssen.[128] Insoweit kommt den von der medizinischen Profession gesetzten, auf Qualitätssicherung (und damit auch Patientenschutz) zielenden Vorgaben letztlich doch eine gewisse Funktion der „Haftungsimmunisierung“ zu.[129] Da aber Richt- und Leitlinien Ergebnisse des jeweiligen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnis und praktischen Erfahrung zum Zeitpunkt ihres „Erlasses“ darstellen, werden sie durch neuere Erkenntnisse relativiert und können somit in einen Gegensatz zum einzuhaltenden Standard geraten: Sie sind relativ im Hinblick auf den Fortschritt der Erkenntnisse.[130] Dies hat für den behandelnden Arzt, der seine Behandlung am ärztlichen Standard auszurichten hat, zur Folge, dass er nicht nur diese Wegweisungen der ärztlichen Institutionen für die Festlegung sorgfaltsgemäßen Vorgehens zu beachten hat, sondern stets prüfen muss, ob in der veröffentlichten medizinischen Literatur Weiterentwicklungen des Erkenntnisstandes in dem fraglichen Feld erkennbar sind, die zu einer Relativierung oder gar Überholung dieser Richt- und Leitlinien führen.[131]
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Weder begründet ein richt- bzw. leitlinienbezogener „Normenverstoß“ stets sorgfaltswidriges ärztliches Verhalten[132] noch vermag die Einhaltung entsprechender Vorgaben, die in der Regel nur auf den Durchschnittsfall abstellen, sorgfaltswidriges Verhalten von vornherein auszuschließen, sofern außergewöhnliche Gefährdungslagen vorliegen.[133] Leit- und Richtlinien können aber die Feststellung eines Behandlungsfehlers erleichtern, die Rechtsanwendung rationalisieren und den Sachverständigen anleiten,[134] da in ihnen nicht nur eine individuell-ärztliche, sondern institutionell-ärztliche Bewertung zum Ausdruck kommt. Dies ändert nichts daran, dass der Schritt vom allgemeinen Standard zum individuellen Fall, also die Standardanwendung im Einzelfall, einer individuellen Sachverständigenbewertung bedarf, weil die Leitlinie i.d.R. selbst eine begründete Abweichung erlaubt oder sogar gebietet. Die Abweichung von einer bestehenden Leitlinie stellt nie automatisch einen Behandlungsfehler dar. Dank ihrer Qualitätssicherungsfunktion bewirkt die Befolgung der Leitlinie aber eine gewisse „Haftungsimmunisierung“.[135] Wer die Richt- und Leitlinie befolgt, dem kann grundsätzlich kein Behandlungsfehler vorgeworfen werden, es sei denn, sie sind veraltet (entsprechen also nicht mehr dem Stand der medizinischen Wissenschaft) oder es liegt ein „Sonderfall“ vor.
bb) Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Richt- und Leitlinienersteller
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Wenn Richt- und Leitlinien auch keine Vorgreiflichkeit bei der Bestimmung sorgfaltswidrigen ärztlichen Verhaltens zukommt, so bleibt doch die Frage zu klären, inwieweit diejenigen, die an der Erstellung von vornherein unzutreffender Vorgaben beteiligt waren, strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen sind, wenn es bei Anwendung ihrer Vorgaben zu einer Schädigung des Patienten kommt. Der Umstand, dass ggf. auch der behandelnde Arzt (auch subjektiv) fahrlässig gegen die einzuhaltende Sorgfalt verstößt, vermag diesen Personenkreis keineswegs von vornherein zu entlasten: Der deutschen Fahrlässigkeitsdogmatik ist eine Vorgabe, dass bei fahrlässigem Mitwirken an einem fremden Fahrlässigkeitsdelikt nur „den Letzten die Hunde beißen“, fremd.[136] Das Austarieren der Verantwortungsbereiche von Richt- und Leitlinien-Aufstellernund dem ihre Vorgaben anwendenden Arzt ist an einer Überlegung auszurichten, die auch sonst im Bereich sog. Sondernormen Geltung beansprucht: Zwar muss jeder sein Verhalten grundsätzlich nur darauf einrichten, nicht selbst fremde Güter zu gefährden, nicht aber darauf, dass andere dies nicht tun (Verantwortungsprinzip).[137] Ungeachtet dieser Zurechnungsbegrenzung kommt jedoch fahrlässiges Handeln der „Norm“-Aufsteller dann in Betracht, sofern sie infolge fachlicher Autorität und geordneten Verfahrensgangs erkennbar die Gewähr für die inhaltliche Richtigkeit und gefahrlose Anwendbarkeit der Norm zu übernehmen haben (wie dies etwa bei DIN- und VDE-„Normen“ der Fall ist).[138] Eine derartige „Gewährübernahme“ dürfte auch bei medizin-intern verfassten Richt- und Leitlinien (auch der Stufe S1) gegeben sein, da es sich bei ihnen um eine auf Qualitätssicherung zielende und mit der Autorität fachlicher Expertise publizierte Behandlungsempfehlung handelt. Auch insoweit gilt der von Lenckner bereits 1969 postulierte Grundsatz,[139] dass „(der eine Anleitung oder Empfehlung Erteilende dann) eine zusätzliche Verantwortung hat …, wenn er kraft überlegener Sachkunde eine besondere Vertrauensposition einnimmt und andere sich deshalb auf ihn zu verlassen pflegen und im allgemeinen auch verlassen dürfen … Dem besonderen Vertrauen, das dem Normgeber … entgegengebracht wird, (entspricht) eine gesteigerte Verantwortung.“ Diese strafrechtliche Zuschreibungsmöglichkeit von Patientenschädigungen gilt auch für den Fall, dass eine fachlich überholte Leit- oder Richtlinie nicht schnell genug überarbeitet oder zumindest für überholt erklärt wird.[140] Die insoweit dann aufgeworfenen dogmatischen Fragen der Strafbarkeit von Kollegialentscheidungen sind von der strafrechtlichen Produkthaftung her bekannt,[141] deren Grundsätze mutatis mutandis heranzuziehen sind.
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