66
(2) Eine handlungsleitende Berücksichtigung knapper Ressourcen im Rahmen der Indikationsstellung kann juristisch jedenfalls bei vitaler Indikation, aber auch bei dem Patienten drohenden schwerwiegenden gesundheitlichen Nachteilen nicht zu einer zulässigen „Rationierung[372] am Krankenbett“ führen:[373] Zwar ist es vom Ansatz her durchaus konstruierbar, den Behandlungsabbruch als Ergebnis einer Güterabwägung (§ 34 StGB bzw. rechtfertigende Pflichtenkollision) mit den Interessen Dritter, also sonstigen Behandlungsbedürftigen, zu begreifen.[374] Einer derartigen Güterabwägung steht aber die Lebenswertindifferenz des Grundgesetzes[375] entgegen. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1975 in seinem ersten Verdikt zu den §§ 218 ff. StGB ausgeführt: „Der Schutz des einzelnen Lebens darf nicht deswegen aufgegeben werden, weil das an sich achtenswerte Ziel verfolgt wird, andere Leben zu retten. Jedes menschliche Leben … ist als solches gleich wertvoll und kann deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden.“[376] In seiner späteren Entscheidung[377] zur Verfassungswidrigkeit der Ermächtigung (§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz) zum Abschuss eines zu Terrorzwecken gekaperten, mit tatunbeteiligten Menschen besetzten Flugzeuges, das zur Tötung anderer Menschen eingesetzt werden soll, wurde diese Linie fortgesetzt: Dem Staat sei es verwehrt, die Tötung eines Menschen als Mittel zur Rettung anderer zu benutzen.[378] Insoweit ist allerdings hervorzuheben, dass diese Entscheidung zu § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz die Aufopferung Einzelner zur Rettung bereits konkret bedrohter Dritter betraf, während im Falle der Rationierung medizinischer Versorgung dieser Drittbezug nur mittelbar und zeitlich verschoben vorläge.
67
(3) Ungeachtet dieser auch für eine Anwendung des § 34 StGB maßgeblichen Lebenswertindifferenz der Verfassung sind meines Erachtens im ärztlichen Beurteilungsspielraum zwei (letztlich auch „ökonomisch“ begründbare[379]) Kriterien berücksichtigungsfähig, nämlich die sog. probalistische sowie die sog. quantitative Sinnlosigkeit.[380] Im Falle der probalistischen Sinnlosigkeithandelt es sich um Maßnahmen, die einen lebenserhaltenden Effekt zwar haben können, wobei dieser angestrebte Erfolg aber nicht mit hinreichender[381] Wahrscheinlichkeit statistisch gesichert ist. Ab einem gewissen Grad der Unwahrscheinlichkeit des erwünschten Erfolges beginnt auch außerhalb des ärztlichen Tätigkeitsfeldes eine Abwägung mit dem dafür erforderlichen Aufwand, und dies ungeachtet des allgemein anerkannten Grundsatzes, dass jedes Leben in jedem Zustand einen gegenüber ökonomischen Interessen nicht abwägbaren Höchstwert darstellt.[382] Zusätzlich sollte aber auch noch die quantitative Sinnlosigkeiteinen von Rechts wegen zulässigen Teil medizinisch-ärztlicher Indikationsstellung bilden können: Maßnahmen, die eine Lebenserhaltung zwar hinreichend sicher, aber nicht für eine hinreichend lange Zeit[383] erreichen können, sind möglicherweise im Einzelfall nicht mehr angemessen. Sollte wirklich eine Rechtspflicht bestehen, an einem todkranken Patienten eine „große Operation“ zur Lebensverlängerung um wenige Stunden durchzuführen? Gar noch unter Einbeziehung einer Organspende?[384] Mit einer verneinenden Antwort wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Einsatz klinischer Maßnahmen in Grenzfällen eben immer auch ein Problem der Verteilung knapper Ressourcen ist.[385]
h) Fehlende strafrechtliche Haftungsbeschränkung in sonstigen Fällen
68
Demgegenüber vermag eine für den konkret zu behandelnden Patienten ausgeschlossene Honorierung ärztlicher Tätigkeit infolge einer Budgetierung[386] (etwa durch Vorgaben des Honorarverteilungsmaßstabes[387]) den an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmenden Arzt nicht aus seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entlassen, wenn er aus diesem Grunde eine medizinisch angezeigte Behandlung aufschiebt und hierdurch die Gesundheit oder gar das Leben seines Patienten schädigt: Die Frage der Kostenerstattung stellt lediglich eine Frage der Verteilung knapper Mittel innerhalb der Ärzteschaft dar.[388] Zu denken ist hierbei bspw. an Regelleistungsvolumina für ärztliche Leistungen, Richtgrößenvolumina für Arznei- und Verbandsmittel sowie insbesondere an Quartalspauschalen in Form von hausärztlicher Versichertenpauschale sowie fachärztlicher Grundpauschale;[389] auch die Fallpauschalen für die Krankenhausbehandlung sind hier zu erwähnen. Wagner [390] weist i.Ü. zurecht daraufhin, dass von einem Zwang zur kostenlosen Behandlung insoweit ohnehin keine Rede sein kann, da lediglich die Honorierung je behandeltem Patienten anteilsmäßig sinkt. Fehlende sozialversicherungsrechtliche Kostendeckung würde i.d.R. auch nicht zur Unzumutbarkeit (als strafbarkeitseinschränkendem Regulativ im Bereich der Fahrlässigkeits- und Unterlassenstrafbarkeit) führen, da die beim Patienten tangierten Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit/Gesundheit oder gar des Lebens gegenüber wirtschaftlichen Interessen des Arztes als höherwertig einzustufen sind.[391] Hinzu kommt, dass die gesetzliche Wertentscheidung (SGB V), wonach der Arzt und nicht sein Patient die aus der sozialversicherungsrechtlichen Budgetierung folgenden Nachteile zu tragen hat,[392] einer Anwendung von § 34 StGB (Nichtbehandlung kein „angemessenes“ Mittel) sowie der Annahme einer Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens entgegensteht.[393] Dem Arzt ist also die Mühsal aufzuladen, in eigener Person – und damit auch auf eigenes finanzielles Risiko – sozial- und verfassungsrechtlich klären zu lassen, ob die innerärztliche Honorarverteilung auf die einzelnen Berufsgruppen und Praxen gegen das aus Art. 12 i.V.m. Art. 3 GG herzuleitende Gebot der Verteilungsgerechtigkeit verstößt.[394] Auch bleibt ihm die sicherlich höchst zeitaufwändige und mühselige Möglichkeit, die Notwendigkeit einer Überschreitung seiner Budgetgrenzen im Einzelfall zu belegen.[395]
i) Verantwortlichkeit der Krankenhausleitung
69
Für eine mögliche Strafbarkeit derjenigen Leitungspersonen,[396] die patientenschädliche, von den behandelnden Ärzten dann umgesetzte Rationierungsvorgaben getroffen haben, gelten die soeben entwickelten Grundsätze sinngemäß. Aus dem in Rn. 97genannten Grund kann sich dieser Personenkreis nicht darauf berufen, dass die (nicht-)behandelnden Ärzte ihrerseits ebenfalls sorgfaltswidrig gehandelt haben.
j) Keine Strafbarkeit der auf Makro- bzw. Mezzo-Ebene Handelnden
70
Nur angedeutet werden kann hier die Problematik, inwieweit diejenigen, die für entsprechende Vorgaben einer Behandlungslimitierung auf der Verteilungsebene der Makro- bzw. Mezzo-Allokationverantwortlich zeichnen, für hierdurch bewirkte Schäden an Leib und Leben bei unbehandelt bleibenden Patienten strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen sind. Man könnte daran denken, die Überlegungen fruchtbar zu machen, die im Zusammenhang mit sog. technischen Normen (etwa DIN-Vorschriften) hinsichtlich der „Norm“-Aufsteller angestellt worden sind: Insoweit kommt (fahrlässiges) Handeln dieser Personen immerhin dann in Betracht, sofern sie infolge ihrer fachlichen Autorität und eines geordneten Verfahrensganges bei der Aufstellung der Regelungen erkennbar die Gewähr für deren inhaltliche Richtigkeit und gefahrlose Anwendbarkeit übernehmen, wie dies etwa in Bezug auf die DIN- oder VDE-Normen der Fall ist.[397] Vorliegend geht es aber nicht um Vorgaben für standardgemäßes Vorgehen im Einzelfall. Die Akteure auf der Makro-Allokationsebene üben entweder ihren eigenen politischen Gestaltungsspielraum (Parlament) oder den ihnen gesetzlich übertragenen (Gemeinsamer Bundesausschuss, § 91 SGB V) aus. Auch der sog. Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes[398] ist letztlich trotz Anerkennung eines verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruches kein umfassendes Rationierungsverbot zu entnehmen.[399] Das Bundesverfassungsgericht[400] hat im Ergebnis allerdings unmittelbar aus der Verfassung einen medizinischen Leistungsanspruch gegenüber der Sozialversicherung konstruiert, der einzig und allein auf den Gesundheitszustand des Betroffenen und auf eine (überdies dann auch nur potenzielle) medizinische Zweckmäßigkeit der Leistung abstellt, ohne noch eine Kosten-Nutzen-Abwägung zuzulassen. Sicherlich stand bei dieser Entscheidung auch der Umstand im Hintergrund, dass der Betroffene eigene Beiträge zur Sozialversicherung aufgewandt hatte. Dies ändert aber nichts daran, dass nach der Auffassung des höchsten deutschen Gerichtes bei akut lebensentscheidenden Maßnahmen bzw. bei deren Unterlassen ökonomische Gründe nicht ausschlaggebend sein dürfen.[401] Hierdurch sind auch gesetzlichen Rationierungsregelungen (sowohl des Parlaments als auch der sozialversicherungsrechtlichen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses) Schranken gesetzt.[402] Inwieweit hiergegen verstoßende Vorgaben der Parlamentsabgeordneten oder der Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses dann (ungeachtet von Kausalitätsfragen) eine entsprechende strafrechtliche Verantwortlichkeit dieser Rationierungsverantwortlichen auf Makro-Ebene nachsichzögen, bedarf ebenso weiterer rechtswissenschaftlicher Diskussion wie die Bewertung derjenigen, die auf der sog. Mezzo-Ebene (bspw. Kassenärztliche Vereinigungen und Gesetzliche Krankenkassen bei der Festlegung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs oder des Regelleistungsvolumens[403]) möglicherweise faktisch rationierende Entscheidungen treffen.
Читать дальше