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Es besteht jedoch keine Veranlassung, im Bereich ärztlicherseits bewirkter Körperverletzungen gleichsam ein Sonderrecht[439] (etwa durch Annahme einer wegen Standeswidrigkeit infolge fehlender ärztlicher Indikation unwirksamen Einwilligung des Verletzten) zu schaffen und von den sonst geltenden Grundsätzen abzuweichen,[440] wonach bei freiverantwortlicher Disposition des Rechtsgutsinhabers infolge Einwilligung die Strafbarkeit entfällt.[441] Zusätzlich ist zu beachten, dass die hergebrachten Grenzen ärztlicher Berufstätigkeit und damit auch des ärztlichen Heileingriffs ohnehin zunehmend verschwimmen; erinnert sei an Schönheitsoperationen, aber auch an ärztliche Hilfestellungen im Rahmen der Reproduktionsmedizin.[442] Die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Grenzen medizinischer Indikation[443] als allgemeiner arztrechtlicher Voraussetzung für zulässiges ärztliches Handeln[444] sind noch nicht absehbar.[445] Dies bildet im Übrigen einen weiteren Grund, den Einsatz des scharfen Schwertes des Strafrechts von vornherein nicht auf dem Treibsand sich wandelnden ärztlichen Standesrechts zu verankern.[446] Hinzu kommt der Umstand, dass schon der Bezugspunkt der ärztlichen Indikation, nämlich die Krankheit des Patienten, nicht ausschließlich objektiv bestimmt werden kann, sondern als Abweichung vom „Normalen“ die Sicht des betroffenen Patienten, die von ihm empfundene Belastung, einzubeziehen hat.[447] Auch dieser Aspekt spricht für die strafrechtliche Relevanz des Patientenwillens in der vorliegend diskutierten Fragestellung.
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Wollte man hingegen die Unzulässigkeit eines ärztlichen Heileingriffs, der ohne ärztliche Indikation[448] allein auf Grund der Patienteneinwilligung durchgeführt wird, annehmen, so würde sich folgende Überlegung aufdrängen: Eine derartige – wegen der Hintanstellung der Selbstbestimmung des Patienten hinter das Primat einer Bewahrung ärztlicher Standards ohnehin abzulehnende[449] – Einwilligungsschranke[450] wäre materiell letztlich nur damit zu begründen, dass andernfalls das Vertrauen der Allgemeinheitin die Lauterkeit der Ärzteschaft als Basis eines funktionierenden Systems der Heilbehandlung gefährdet würde.[451] Ein derartiges Vertrauen in eine ärztliche Praxis, die sich sowohl an fachlich-medizinischen Vorgaben als auch an arztethischen Parametern ausrichtet, wäre indessen allenfalls dann beeinträchtigt, wenn ärztlicherseits „Heil“behandlungen durchgeführt würden, die kontra indiziert wären (hierzu Rn. 78).[452] Ein solcher Vertrauensverlust ist hingegen nicht zu befürchten, wenn lediglich die Durchführung von nicht indizierten Heilmaßnahmen im Raum steht.[453]
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Mithin kann eine Einwilligung des Patienten den vorgenommenen Eingriff auch ohne Vorliegen einer medizinischen Indikation strafrechtlich legitimieren. Dem steht auch nicht die Dispositionsschranke des § 228 StGBentgegen,[454] da diese Vorschrift nicht dem im Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) enthaltenen Gebot hinreichend bestimmter täterbelastender strafrechtlicher Regelungen gerecht wird.[455]
e) Kontraindizierte ärztliche Eingriffe
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Das soeben Ausgeführte beansprucht m.E. auch in Fällen Gültigkeit, in denen ein Arzt einen körperverletzenden Eingriff vornimmt, obwohl Umstände vorliegen, denen zufolge sich die Anwendung eines diagnostischen oder therapeutischen Verfahrens wegen der hiermit verbundenen Gefährdung des Patienten oder ihrer zu erwartenden völligen Nutzlosigkeit[456] verbietet oder nur unter strenger Abwägung der gesundheitlichen Gefahren möglich wäre.[457] Auch in dieser Fallkonstellation ist – nach entsprechender Aufklärung durch den Arzt – eine wirksame Einwilligung des Patienten möglich;[458] alles andere wäre unzulässiger (harter[459]) Paternalismus. Genauso wie ein Patient infolge seines Selbstbestimmungsrechts „unvernünftiger Weise“ dem Arzt eine vital indizierte Behandlung untersagen kann, so steht ihm auch umgekehrt die Befugnis zu, eine kontraindizierteärztliche Maßnahme[460] zu gestatten, ohne dass seine Entscheidung einen „Filter der Vernunft“ durchlaufen muss.[461] Hierbei stellt sich i.d.R. die hier nicht zu erörternde Problematik, dass bei derartigen medizinisch nicht erforderlichen, patientenschädigenden Maßnahmen der Patient ein Ergebnis erstrebt, das mit der Vornahme der Behandlung auch nach Einschätzung des Arztes gar nicht erreicht werden kann; deshalb könnte die Einwilligung möglicherweise nicht rechtswirksam erteilt worden sein.[462]
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Unter einem Behandlungsfehlerist ein nach dem Stand der Medizin unsachgemäßes Verhalten des Arztes zu verstehen.[463] Dieses wird strafrechtlich allerdings erst dann bedeutsam, wenn es eine Körperverletzung oder gar den Tod des behandelten Patienten nachsichzog. Unter dem umfassenden Oberbegriff des „Behandlungsfehlers“ können nach Katzenmeier [464] sowohl die Vornahme eines nicht indizierten Eingriffs[465] wie umgekehrt die Nichtvornahme eines indizierten Eingriffs ebenso fallen wie Fehlmaßnahmen oder unrichtige Dispositionen des Arztes bei Anamnese, Diagnose, Prophylaxe, Therapie und Nachsorge. Auch Fehler im Behandlungsumfeld sind erfasst,[466] wie etwa das Unterlassen gebotener Kontrolluntersuchungen oder des Anforderns wichtiger Patientendaten, deren Existenz dem Behandelnden bekannt ist (oder hätte bekannt sein müssen). Erfasst werden desgleichen bspw. fehlerhafte Abstimmungen zwischen mehreren Behandlern, eine dem Standard nicht entsprechende Einteilung von Ärzten im Operationsplan oder eine verfrühte Entlassung des Patienten sowie eine unterlassene Sicherungsaufklärung des Patienten zur Sicherstellung seines therapiegerechten Verhaltens. Der neutrale Begriff des Behandlungsfehlers ist auch in der Rechtsprechung an die Stelle des historisch älteren[467] und eher Missverständnisse befördernden Begriff des Kunstfehlers getreten.[468] Letztlich kommt es aber nicht auf diese Umschreibung, sondern entscheidend darauf an, ob eine Sorgfaltswidrigkeit i.S.d. Fahrlässigkeitsdelikts, mithin eine nicht legitimierte Unterschreitung des gebotenen Facharztstandards, vorliegt.[469]
a) Vermeidung von Zuschreibungsfehlern
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Wie auch sonst bei Fahrlässigkeitsdelikten gilt es für den Rechtsanwender, sich bei seiner ex ante-Beurteilung der Gefahr von Zuschreibungsfehlern[470] bewusst zu sein und sich nicht durch die „actor-observer-Differenz“ zu derartigen Fehlern bei der nachträglichen Bewertung menschlichen Verhaltens verleiten zu lassen:[471] Die Offenheit der Handlungssituation, in die der Arzt sich gestellt sieht, kann bei nachträglicher Beurteilung ebenso unterschätzt wie umgekehrt die Möglichkeit einer rationalen Entscheidungsfindung überschätzt werden.[472] Die Kenntnis der tatsächlich eingetretenen Handlungsfolgen lässt sich nur schwer ausblenden, so dass nachträglich gestellte „Prognosen“ einem schleichenden Determinismus unterliegen können. Überdies erfolgen Bewertungen häufig in Relation zur Schwere der negativen Handlungsfolgen, so dass stets die Gefahr einer unangemessenen „Erfolgsorientierung“ und einer Reduktion des Bewertungsvorgangs auf die bloße „Rekonstruktion eines versteinerten Kausalverlaufs“ besteht („severity-responsibility-relation“).[473] Damit würde aber die Grenze zwischen Schicksal (des Patienten) und Schuld (des Arztes) verwischt.[474] Aus diesem Grunde hat auch der für die Arzthaftung zuständige 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zurecht aus der Eigentümlichkeit des ärztlichen Handelns geschlossen, dass „Kausalverläufe bei ärztlichen Eingriffen (…), weil ein jeweils anderer Organismus getroffen ist, dessen Zustand und Reaktion nicht sicher berechenbar ist, häufig weder vorausschauend noch rückwirkend eindeutig feststellbar (sind). Mißerfolge und Komplikationen im Verlauf einer ärztlichen Behandlung weisen deshalb nicht stets auf ein Fehlverhalten des behandelnden Arztes hin.“[475] Ferner: „Zwischenfälle, die in der Regel auf ärztliches Fehlverhalten hindeuten, (können) in vielen Bereichen infolge der Unberechenbarkeit des lebenden Organismus ausnahmsweise auch schicksalhaft eintreten (…).“[476] Des Weiteren: „(Auch sind die) Symptome einer Erkrankung (…) nicht immer eindeutig, sondern können auf die verschiedensten Ursachen hinweisen … Auch kann jeder Patient wegen der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen.“[477] Diese Unberechenbarkeit des lebenden Organismus[478] verbietet es, aus einem Fehlschlag ärztlicher Bemühungen oder einem Behandlungszwischenfall umstandslos auf ein Fehlverhalten zu schließen.[479] Stattdessen ist darauf abzustellen, ob „der Arzt unter Einsatz der von ihm zu fordernden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen im konkreten Fall vertretbare Entscheidungen über die diagnostischen sowie therapeutischen Maßnahmen getroffen und diese Maßnahmen sorgfältig durchgeführt hat.“[480]
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