3. Abweichungen vom Standard
a) Standardüberschreitendes Individualvermögen
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Die vom potentiellen Täter eines Fahrlässigkeitsdeliktes einzuhaltende Sorgfalt gebietet es generell, zur Vermeidung von Gefahren das Optimum dessen zu leisten, was in der konkreten Lebenssituation hierzu geleistet werden kann.[404] Somit ist auch im Bereich der Heilbehandlung der behandelnde Arzt, der über ein überdurchschnittliches Leistungsvermögenverfügt, zu größerer Umsicht aufgerufen; er unterliegt damit gegenüber durchschnittlichen Anforderungen erhöhten Sorgfaltsanforderungen.[405] So darf bspw. ein besonders befähigter Chirurg bei einer riskanten Operation sich nicht auf die Anwendung derjenigen Fertigkeiten und Techniken beschränken, die den Mindeststandard für jeden bilden, der sich überhaupt als Chirurg betätigen darf; er hat vielmehr das zu leisten, was er nach seinen Fähigkeiten zu leisten vermag.[406] Der insoweit nicht sonderlich geglückten Regelung des § 630a Abs. 2 BGB, die auf die „anerkannten fachlichen Standards“ abstellt, ist bereits für das zivilrechtliche Haftungsrecht nichts Gegenteiliges zu entnehmen.[407] Da aber ein stetes Agieren auf höchstem Niveau (auch) von einem Arzt realistischer Weise nicht gefordert werden kann, ist stets – im Rahmen der Schuldprüfung – zu klären, ob das Verfehlen des für diesen Arzt normalerweise zu fordernden, erhöhten Behandlungsstandards ihm auch persönlich vorgeworfen werden kann. Dies wird im o.g. Beispiel dann nicht der Fall sein, wenn dem Chirurgen bei einer infolge nicht vorhersehbarer Komplikationen erheblich länger als geplant andauernden Operation infolge Ermüdung ein Fehler unterläuft, den er nach seinen speziellen Fähigkeiten im Normalfall hätte vermeiden können.[408]
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Entsprechend zur Verschärfung des generellen Facharzt-Standards infolge höheren individuellen Leistungsvermögens sind auch an denjenigen Arzt gesteigerte Sorgfaltsanforderungen zu stellen, der über (zumindest aktualisierbares) Sonderwissenverfügt.[409] Dies betrifft namentlich therapiebedeutsame Spezialkenntnisse,[410] und zwar unabhängig davon, ob der Arzt diese Erkenntnisse aus der konkreten Behandlung dieses Patienten gewonnen hat oder ob sein Wissen auf abstrakter Kenntniserlangung, bspw. im Wege ärztlicher Fortbildung,[411] beruht.[412]
c) Vereinbarte Standardunter- sowie -überschreitung
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Stimmt ein Patient nach entsprechender Aufklärung einer ärztlichen Behandlung zu, die nicht den Anforderungen des Facharztstandards entspricht, so liegt in dieser Standardunterschreitungkein, eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit begründender, Verstoß gegen ärztliche Sorgfaltspflichten. Da ein Patient in Ausübung seines durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Selbstbestimmungsrechts über seine körperliche Integrität eigenverantwortlich darüber entscheiden kann, welchen Behandlungen er sich unterziehen will, steht dem um die Tragweite seiner Entscheidung wissenden Patienten auch die Befugnis zu, sich mit einer nicht dem Facharztstandard entsprechenden Behandlungsmethode einverstanden[413] zu erklären.[414] Diese Rechtslage findet auch im 2013 neu eingefügten § 630a Abs. 2 BGB ihre Bestätigung, wonach die Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen hat, „soweit nicht etwas anderes vereinbart ist.“[415] Mit dieser Formulierung wollte der Gesetzgeber die Dispositionsmöglichkeit des Patienten entsprechend zum bisherigen Recht wahren.[416] Die höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht[417] hat ebenfalls einen entsprechenden Konsens für möglich erachtet.[418] – Hierzu auch in Rn. 135 ff.– Zivilrechtliche Überlegungen, wegen des Ungleichgewichts zwischen dem Patienten, der die Behandlung benötigt, und dem Behandelnden, der eine Haftpflichtversicherung hat, Haftungsbeschänkungen für unwirksam zu halten,[419] sollten nicht in das Strafrecht übertragen werden (vgl. Rn. 11). – Bei Durchführung der Behandlung hat sich der Arzt – wie in Fällen, in denen ein Facharztstandard noch nicht bzw. nicht mehr besteht – am Leitbild eines vorsichtigen Arztes zu orientieren und ggf. sein Vorgehen auf eine Behandlung umzustellen, die innerhalb des fachärztlichen Behandlungskorridors liegt. – Fehlt es hingegen an einer entsprechenden Aufklärung des Patienten, dann liegt infolge der Standardunterschreitung nicht nur ein Aufklärungs-, sondern bei einem hierdurch verursachten körperlichen Schaden auch ein Behandlungsfehler vor.[420] – Bei einer vom Arzt nicht eingehaltenen Vereinbarung[421] einer Behandlung, die umgekehrtdie Anforderungen des Facharztstandards übertreffensollte (etwa bei einer Neulandbehandlung[422]), erhöhen sich die Sorgfaltsanforderungen an den Arzt entsprechend. Sofern er zu ihrem Einhalten nicht in der Lage war, läge eine Sorgfaltswidrigkeit auch unter dem Aspekt einer Übernahmefahrlässigkeit ( Rn. 142 ff.) dann nicht vor, sofern die Behandlung immerhin noch innerhalb des Facharztstandards erfolgt.[423] Allerdings würde in derartigen Fällen der ärztliche Eingriff als solcher eine strafbare vorsätzliche Körperverletzung darstellen, sofern die Einwilligung des Patienten infolge ärztlicher arglistiger Täuschung[424] (über die geplante Behandlungsweise) unwirksam ist.
d) Ärztliche Eingriffe ohne Indikation
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Ärztliches Agieren, das sich nicht mehr als ein (nur) die Heilungs-Bedürfnisse des Patienten befriedigendes, sondern als ein darüber hinausgreifendes, Patientenwünsche erfüllendes Verhalten (Stichwort: „Enhancement“[425]) darstellt, wirft sicherlich auch die Frage nach den strafrechtlichen Grenzen entsprechenden ärztlichen Tuns auf. Als Stichworte seien hier reine Schönheitsoperationen ohne medizinische Veranlassung,[426] eine medizinisch nicht gebotene Kaiserschnittentbindung („Wunschsectio“)[427] oder die aus welchen Gründen auch immer erfolgende Abtrennung gesunder Körperteile[428] genannt. Hier stellt sich die Frage, ob – und wenn ja: in welchem Umfang – entsprechendes ärztliches Handeln allein auf Basis der vom Betroffenen erteilten Einwilligung strafbarkeitsbefreiende Legitimation erfährt.[429] Ob ein ärztlicher Eingriff, für den keine medizinische Indikation[430] besteht, überhaupt noch als ein zulässiger Heileingriff angesehen werden kann, ist bekanntlich umstritten.[431] Die Notwendigkeit einer medizinischen Indikation für eine Straflosstellung körperverletzenden ärztlichen Handelns könnte sich daraus herleiten lassen, dass man – anders als die ständige Rechtsprechung[432] – einen medizinisch indizierten, von einem Arzt lege artis (erfolgreich) durchgeführten Heileingriff aus dem Tatbestand der Körperverletzungsdelikte auch des Strafgesetzbuches ausgeklammert sehen will.[433] Fehlt die medizinische Indikation als die nach allen Spielarten dieser Auffassung unerlässliche Grundvoraussetzung eines aus dem Anwendungsbereich der §§ 223 ff. StGB herauszunehmenden ärztlichen Heileingriffs, so steht zumindest fest, dass dieses ärztliche Handeln dem Anwendungsbereich der Körperverletzungstatbestände nicht von vornherein entzogen ist, da eine medizinische Indikation als privilegierender Tatbestandsausschlussgrund[434] nicht vorliegt. Daraus kann allerdings nicht im Gegenschluss die Annahme hergeleitet werden, dass bei fehlender Indikation strafbares Unrecht verwirklicht wird.[435] Bei der sich anschließenden Überlegung scheiden sich die Geister: Während ganz überwiegend ein indikationsloses Handeln zwar dem Straftatbestand des § 223 StGB zugeordnet, eine Rechtfertigung dann aber infolge der erteilten Einwilligung für möglich erachtet wird,[436] gelangen andere Autoren[437] zu dem Ergebnis, es läge eine Strafbarkeit[438] wegen vorsätzlicher Körperverletzung vor.
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