Der Chevalier goß jetzt Wein in die geschliffenen Kelche aus Muranoglas. »Aber was können wir tun? Wir dürfen uns zu keiner Unvorsichtigkeit hinreißen lassen. Ich habe keine Lust, noch einmal für acht Jahre vom Hof getrennt zu werden.«
»Das wird auch nicht geschehen.« Madame de Granceys Augen funkelten böse. »Wir müssen abwarten und Madame Liselotte beobachten. Ich habe schon so meine Pläne, die wir zur rechten Zeit in die Tat umsetzen werden.« Sie hob ihr Glas. »Trinken wir darauf, daß die alten, angenehmen Zeiten bald für uns wiederkehren.«
Versailles ... Das war wirklich der steingewordene Märchentraum eines Königs mit seiner verschwenderischen Pracht aus Gold, Silber und Marmor, der ausgewogenen Harmonie seiner Säle, Zimmerfluchten, Treppen und Galerien.
Ein Märchentraum waren auch die von Le Nôtre geschaffenen Parkanlagen, selbst jetzt, in dieser kalten, grauen Jahreszeit, in der sich früh die Dunkelheit herabsenkte über die weißen Marmorgöttinnen zwischen Thuja- und Buchsbaumhecken, die breiten Alleen und die wasserspeienden Tritonen und Nymphen der Springbrunnen.
Welch ein Anblick müssen diese Gärten erst im Sommer sein! dachte Isabell, als sie im Dämmerschein des Abends von einem Spaziergang zum Schloß zurückkehrte.
Sie blieb auf einer der Terrassen stehen und malte sich das feenhafte Bild aus, wenn die Blumenrabatten in allen Farben glühten, die Wasserspiele im Sonnenlicht glitzerten und vergoldete Barken mit purpurroten Segeln über die künstlich angelegten Kanäle und Teiche glitten.
Isabell war seit drei Tagen in Versailles, und noch immer erschien ihr die Wandlung, die ihr Leben erfahren hatte, wie ein Wunder.
Sie war sehr krank gewesen, nachdem sie damals auf der staubigen Landstraße zusammengebrochen war. Viele Tage hatte sie im Fieber gelegen, ohne zu wissen, was mit ihr geschehen war. Da war nur noch die verschwommene Erinnerung an einen Mann, der sich mit erschrockenem Gesicht über sie gebeugt hatte. Ein schönes, klares Gesicht war es gewesen, mit warmen, dunklen Augen. Er hatte sie zu einer Kutsche getragen, und trotz ihrer Schwäche hatte sich Isabell in diesem kurzen Augenblick seltsam geborgen, beinahe glücklich gefühlt.
Später, in den flüchtigen Momenten schmerzerfüllten Wachseins, hatte sie begriffen, daß sie in einem Bett lag, in einem fremden, freundlichen, hellen Zimmer. Manchmal war eine alte, sehr vornehme Dame bei ihr gewesen und hatte sich flüsternd mit der sommersprossigen Dienstmagd unterhalten, die Isabell gepflegt hatte.
Heute wußte Isabell, wer die alte Dame gewesen war: Kurfürstin Charlotte von der Pfalz, die Mutter von Madame Liselotte. Sie wußte auch den Namen des Mannes, der sie in die Kutsche der Herzogin getragen hatte: Graf Henry de Montfort...
Isabell hatte ihn nach ihrer Genesung ein paarmal aus der Ferne wiedergesehen und hatte sich dabei jedesmal an jene glückhafte Geborgenheit erinnert, die sie in seinen Armen empfunden hatte.
Isabell schrak aus ihren Gedanken auf, als sich Schritte aus einem Seitenweg näherten. Ein Mann trat aus dem Schatten der Bäume und kam die Terrassenstufen herauf. Bei Isabells Anblick blieb er stehen.
Es war noch hell genug, daß er ihr Gesicht erkennen konnte: das bezaubernde Oval der Wangen, den sensiblen, weichgeschwungenen Mund, die großen Augen.
Isabell knickste. Der abendliche Spaziergänger war zwar einfach gekleidet in schwarze Kniehosen und einen Rock aus dunkelgrünem Tuch. Aber es ging etwas von ihm aus, das Isabell instinktiv spüren ließ: Dies war ein Herr von Stand.
Der Fremde lächelte sie an. Es war ein Lächeln, das ihr unerklärlicherweise Herzklopfen verursachte. »Hat Sie sich verlaufen, Mademoiselle? Oder sucht Sie jemanden?«
»Nein. Ich ... ich habe nur einen Spaziergang gemacht.«
»Ihr gefallen die Gärten von Versailles?«
»Sie sind wundervoll«, antwortete Isabell ehrlich. »Nie im Leben habe ich etwas Schöneres gesehen.«
»Ich auch nicht«, sagte der Fremde, aber er schaute Isabell unverwandt an. Sein Blick war wie ein Streicheln. »Sie spricht französisch mit einem fremdländischen Akzent. Woher kommt Sie?«
»Aus Straßburg. Ich bin Deutsche. Nur meine Mutter war Französin. Sie stammte aus Châlons. Sie hat uns Kindern ihre Muttersprache beigebracht.«
Der Mann im grünen Tuchrock runzelte unmerklich die Brauen. »Sie ist Deutsche, sagt Sie? Weiß Sie nicht, daß Straßburg zu Frankreich gehört?«
»Und ob ich das weiß!« entgegnete Isabell bitter. »Es ist uns auf blutige Weise beigebracht worden. Meinen Bruder und meinen Vater hat es das Leben gekostet.«
»Ach ...« Er schien betroffen. »Dann ist Sie wohl nicht gut auf die Franzosen und ihren König zu sprechen, wie?« Und als Isabell nicht antwortete, fügte er mit einem halben Lächeln hinzu: »Sie kann es mir ruhig sagen. Ich werde es dem König gewiß nicht weitererzählen.«
»Ihr seid wohl auch kein Freund von ihm?« fragte Isabell.
Der Fremde hob die Schultern. »Welcher König hat nur Freunde ... Manchmal, das will ich nicht bestreiten, ist er mir nicht unsympathisch. Aber es gibt auch Stunden, in denen er mir recht zuwider ist.«
»Ich hasse ihn!« rief Isabell leidenschaftlich. »Ihr wart nicht dabei in Straßburg. Ihr habt nicht miterlebt, wie man uns überfallen hat. Freilich, Madame von Frankreich versucht, mir meinen Haß auszureden. Sie sagt, der König sei im Grunde ein guter Mensch, obwohl sie selbst noch vor wenigen Wochen einen großen Zorn auf ihn hatte. Aber inzwischen hat sie sich wieder mit ihm versöhnt.«
»Madame von Frankreich?« wiederholte der Unbekannte. »Steht Sie in Diensten bei der Herzogin von Orléans?«
»Ich bin Kammerzofe bei ihr. Madame hat mich aus Straßburg mitgenommen. Das heißt – genau gesagt hat sie mich auf der Landstraße gefunden, nachdem Banditen mich überfallen hatten. Ich war sehr krank danach, und Madame Liselotte hat mich auf ein Gut zu ihrer Mutter gebracht. Als es mir besserging, hat mich die Herzogin ein paarmal besucht und mir schließlich den Vorschlag gemacht, in ihre Dienste zu treten.«
»Und das hat Sie getan?« fragte der Fremde ein wenig spöttisch. »Obwohl Ihr Frankreich so viel Abscheu einflößt?«
»Madame Liselotte war sehr gut zu mir«, antwortete Isabell einfach. »Ich wollte gern bei ihr bleiben.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann griff der Fremde überraschend unter Isabells Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Die kleine Berührung weckte eine sonderbare Wärme in ihr.
Er war nicht mehr jung, dieser Mann, aber es ging eine faszinierende Anziehungskraft von ihm aus. Etwas, das Isabell atemlos machte und ihr das Blut in schnellen Stößen zum Herzen jagte.
In den großen, blauen Männeraugen sprang ein Funke auf. »Sie ist sehr reizend, weiß Sie das, Sie kleine Königshasserin? Und in einem sind Seine Majestät und ich uns bestimmt ähnlich: Wir lieben die Frauenschönheit...«
Im nächsten Augenblick hatte er sie an sich gezogen und küßte sie. Es war der erste wirkliche Kuß eines Mannes, den Isabell empfing. Und einen kurzen Augenblick überließ sie sich ganz der fremden Seligkeit, die diese warmen, wissenden Lippen in ihr weckten. Dann stieß sie den Fremden zurück. »Was erlaubt Ihr Euch! Oh, ich sollte Euch ohrfeigen für Eure Unverschämtheit!«
Es war weniger Zorn auf ihn, als vielmehr auf sich selbst, auf ihre eigene, schwindelnde Verwirrung, was Isabell so heftig werden ließ. Hastig wandte sie sich um und lief davon, tiefer in das Dunkel des Parkes hinein. Erst im Schatten einer Taxushecke blieb sie stehen und schaute sich mit fliegendem Atem um, ob der Fremde ihr folgte.
Er stand noch oben auf den Terrassenstufen. Seine Gestalt hob sich deutlich gegen den helleren Himmel ab.
Isabell ballte die Fäuste. Wenn er mir nachgelaufen wäre, dachte sie, bei Gott, ich hätte ihn wirklich geohrfeigt!
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