ARTHUR CONAN DOYLE
Das Zeichen
der Vier
Aus dem Englischen neu übersetzt von Dr. Hannelore Eisenhofer
Mit Illustrationen von Richard Gutschmidt
Übersetzung nach der Ausgabe
»The Complete Sherlock Holmes Long Stories«,
erschienen in einem Band 1929
© 2014 Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,
Hamburg
Alle Rechte, auch das der fotomechanischen Wiedergabe
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elektronischen Systemen, vorbehalten.
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Titelabbildung: Anja Kaiser – Fotolia.com
Umschlag: Timon Schlichenmaier, Hamburg
E-Book Erstellung: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH
ISBN: 978-3-86820-959-4
www.nikol-verlag.de
K APITEL I D IE W ISSENSCHAFT D ER D EDUKTION
Sherlock Holmes nahm sein Fläschchen von der Ecke des Kaminsimses und seine Injektionsspritze aus dem hübschen Saffianlederetui. Seine langen weißen nervösen Finger richteten die empfindliche Nadel gerade und er rollte seinen linken Hemdsärmel zurück. Einige Sekunden ruhte sein Blick nachdenklich auf seinem sehnigen Unterarm und dem Handgelenk, die beide über und über mit zahlreichen Einstichen und Narben übersät waren. Schließlich stieß er die Nadelspitze hinein, drückte den winzigen Kolben und sank mit einem langen Seufzer der Zufriedenheit in seinen samtgepolsterten Lehnstuhl zurück.
Seit vielen Monaten hatte ich zwar drei Mal am Tag diesen Vorgang mit angesehen, aber daran gewöhnen konnte ich mich nicht. Im Gegenteil, von Tag zu Tag wurde ich bei dem Anblick immer gereizter, und des Nachts schlug mir bei dem Gedanken daran immer mehr das Gewissen, weil ich nicht den Mut aufgebracht hatte, dagegen zu protestieren. Immer wieder hatte ich mir geschworen mich diesem Thema zu widmen, aber durch die kühle, lässige Art meines Gefährten war er der letzte Mann, dem gegenüber man sich eine solche Freiheit herauszunehmen getraut hätte. Seine großartigen Fähigkeiten, seine meisterliche Art und die Erfahrung seiner vielen außergewöhnlichen Qualitäten erlegten mir Zurückhaltung auf und ließen mich davor zurückschrecken, ihm Vorhaltungen zu machen.
Doch diesen Nachmittag, sei es der Burgunder, den ich zum Mittagessen zu mir genommen hatte oder die zusätzliche Erbitterung, die durch die extreme Zurschaustellung seiner Handlung hervorgerufen wurde, fühlte ich plötzlich, dass ich mich nicht länger zurückhalten konnte.
„Was ist denn es diesmal?“ fragte ich, „Morphium oder Kokain?“
Er hob gelangweilt den Blick von dem alten Band mit Frakturschrift, den er gerade aufgeschlagen hatte. „Kokain“, sagte er, „eine siebenprozentige Lösung. Möchten Sie es probieren?“
„Nein danke“, antwortete ich schroff. „Meine Konstitution hat sich noch nicht von dem Afghanistanfeldzug erholt. Ich kann es mir nicht erlauben, mir zusätzliche Belastungen aufzubürden.“
Er lächelte über meine Heftigkeit. „Vielleich haben Sie Recht, Watson“, sagte er. „Ich nehme an, dass die Auswirkungen auf den Körper schlecht sind, ich finde jedoch, dass es metaphysisch stimulierend und befreiend für den Geist ist, so dass die sekundären Wirkungen nebensächlich sind.“
„Aber denken Sie doch einmal nach!“ sagte ich ernsthaft. „Bedenken Sie die Kosten! Ihr Gehirn mag, wie Sie sagen, dadurch wach und angeregt werden, aber es ist ein pathologischer und morbider Prozess, der eine Gewebeveränderung verursacht und am Schluss eine dauerhafte Schwäche. Sie wissen auch, welch dunkle Gegenwirkung dadurch über Sie kommt. Warum sollten Sie, nur für ein vorübergehendes Vergnügen, Ihre großartigen Fähigkeiten aufs Spiel setzen, mit denen Sie begnadet sind? Bedenken Sie, dass ich nicht nur als ein Freund zu Ihnen spreche, sondern als ein Mann der medizinischen Wissenschaft, der sich für Ihre Konstitution bis zu einem gewissen Grad verantwortlich fühlt.“
Er schien nicht gekränkt zu sein. Im Gegenteil, er legte die Fingerspitzen aneinander und die Ellbogen auf die Lehnen seines Stuhls, wie jemand, der sich an einer Unterhaltung erfreut.
„Mein Geist“, sagte er, „lehnt sich gegen Stagnation auf. Geben Sie mir Probleme, Arbeit, geben Sie mir das abstruseste Kryptogramm oder die intrikateste Analyse und ich werde in meinem Element sein. Ich kann dann auf diese künstlichen Stimulanzien verzichten. Aber ich verabscheue die stumpfsinnige Routine des Daseins. Ich sehne mich nach geistiger Erhebung. Deshalb habe ich auch diesen ganz speziellen Beruf gewählt, oder besser gesagt ihn erschaffen, denn ich bin der Einzige auf der Welt.“
„Der einzige inoffizielle Detektiv?“ sagte ich und zog die Brauen hoch.
„Der einzige inoffizielle beratende Detektiv“, antwortete er. „Ich bin die letzte und höchste Instanz der Aufdeckung. Wenn Gregson oder Lestrade oder Athelney Jones an ihre Grenzen gestoßen sind, was bei denen der Normalfall ist – dann wird mir die Angelegenheit vorgetragen. Ich prüfe die Daten als ein Experte und gebe die Ansicht eines Spezialisten wieder. Ich erwarte keine Lorbeeren. Mein Name erscheint in keiner Zeitung. Die Arbeit selbst, das Vergnügen ein Betätigungsfeld für meine besonderen Fähigkeiten zu finden, das ist meine höchste Belohnung. Sie haben doch selbst in dem Jefferson Hope Fall einige meiner Methoden kennengelernt.“
„Ja, wahrhaftig“, sagte ich aufrichtig. „Nichts in meinem Leben hat mich bisher so sehr beeindruckt. Ich habe diesen Fall sogar in einer kleinen Schrift mit dem etwas phantastischen Titel ‚Eine Studie in Scharlachrot‘ beschrieben.“
Er schüttelte traurig den Kopf. „Ich habe einen Blick darauf geworfen“, sagte er. „Ehrlich gesagt, kann ich Sie dazu nicht beglückwünschen. Aufklärung ist, oder sollte eine exakte Wissenschaft sein, und sollte in der gleichen sachlichen und nüchternen Art behandelt werden. Sie haben versucht, dem Ganzen einen Hauch Romantik zu verleihen, was die gleiche Wirkung hat, wie eine Liebesgeschichte oder ein Ausreißen, um heimlich zu heiraten, in den fünften Lehrsatz von Euklid einzubauen.“
„Aber die Romanze war da“, protestierte ich. „Ich konnte die Fakten schließlich nicht verfälschen.“
„Einige Fakten sollten ausgelassen oder zumindest sollte bei ihrer Abhandlung ein gesundes Maß an Verhältnismäßigkeit eingehalten werden. Der einzige Punkt in dem Fall, der Erwähnung verdient, war die ungewöhnliche analytische Schlussfolgerung, die von der Wirkung zur Ursache führte, wodurch ich den Fall aufklären konnte.“
Seine Kritik an meiner Arbeit, die ich vor allem ihm zu Ehren verfasst hatte, verdross mich. Ich gebe zu, dass mich auch die Selbstgefälligkeit, mit der er forderte, dass jede Zeile meines Pamphlets seinem speziellen Handeln zu widmen sei, verstimmte. Mehr als einmal hatte ich in den Jahren, in denen ich mit ihm in der Baker Street wohnte, bemerkt, dass der ruhigen und belehrenden Art meines Gefährten eine kleine Aufgeblasenheit zugrundelag. Ich erwiderte nichts, sondern setzte mich und pflegte mein verwundetes Bein. Ich war vor einiger Zeit von einer Kugel getroffen worden, und obwohl ich dadurch nicht beim Gehen behindert wurde, schmerzte das Bein fürchterlich bei jedem Wetterwechsel.
„Meine Verfahren haben sich kürzlich bis auf das Festland ausgeweitet“, sagte Holmes nach einer Weile und stopfte seine alte Pfeife aus Bruyère-Holz nach. „Letzte Woche konsultierte mich François Le Villard, der, wie Sie sicher wissen, erst vor kurzem in den französischen Kriminaldienst kam. Er besitzt die keltische Fähigkeit der schnellen Intuition, aber es fehlt ihm an der ganzen Bandbreite exakter Wissenschaft, die zur höheren Entwicklung dieser Kunst unabdingbar ist. Der Fall betraf ein Testament und wies einige interessante Züge auf. Ich konnte ihn auf zwei ähnliche Fälle verweisen, der eine von Riga aus dem Jahre 1857 und der andere von St. Louis von 1871, die ihn zu der richtigen Lösung des Falles führten. Hier ist der Brief, den ich heute Morgen als Zeichen seiner Anerkennung meiner Hilfe erhielt.“ Während er sprach, schob er mir ein zerknittertes Blatt ausländischen Briefpapiers zu. Ich überflog es, und stellte einen Überfluss an bewundernden Bemerkungen fest, wie „magnifique“, „coup-de-maître“ und „tours-de-force“, die alle die glühende Bewunderung des Franzosen bewiesen.
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