„Mein lieber Doktor“, sagte er freundlich, „ich bitte Sie meine Entschuldigung anzunehmen. Ich hatte die Sache als ein abstraktes Problem betrachtet, und dabei vergessen, wie persönlich und schmerzlich sie für Sie sein müsste. Ich versichere Ihnen jedoch, dass ich nie zuvor wusste, dass Sie einen Bruder haben, bis Sie mir die Uhr gaben.“
„Wie um alles in der Welt kamen Sie dann auf diese Gegebenheiten? Sie sind in jeder Hinsicht absolut richtig.“
„Ach, das war Glück. Ich würde sagen, es war der Abgleich der Wahrscheinlichkeit. Ich hatte nicht erwartet, so genau zu sein.“
„Aber war es nicht nur einfaches Raten?“
„Nein, nein, ich rate nie. Das ist eine entsetzliche Angewohnheit – destruktiv für die logische Denkfähigkeit. Was Ihnen seltsam erscheint, kommt daher, dass Sie meinem Gedankengang nicht folgen oder die kleinen Gegebenheiten nicht beachten, von denen große Rückschlüsse abhängen können. Beispielsweise begann meine Erklärung damit, dass Ihr Bruder nachlässig war. Wenn Sie den unteren Teil des Uhrgehäuses betrachten, werden Sie feststellen, dass sie nicht nur an ein zwei Stellen verbeult ist, sondern überall Kratzer und Schnitte aufweist, die nur von der Gewohnheit stammen können, dass sie zusammen mit anderen Gegenständen, wie Münzen oder Schlüsseln, in der gleichen Tasche getragen wurde. Es ist sicherlich keine große Kunst anzunehmen, dass ein Mann, der eine fünfzig Guineen Uhr so unbekümmert trägt, nachlässig ist. Noch ist es ein weither geholter Rückschluss, wenn ein Mann, der einen Gegenstand von solchem Wert erbt, auch in anderer Hinsicht betucht sein muss.“
Ich nickte, um zu zeigen, dass ich seinen Begründungen folgen konnte.
Bei Pfandleihern in England ist es sehr verbreitet, dass sie, wenn sie eine Uhr annehmen, die Nummer des Pfandscheins mit einer Nadel auf der Innenseite des Deckels einritzen. Das ist praktischer als ein Anhänger, weil es das Risiko nicht gibt, dass die Nummer verlorengeht oder verlegt wird. Es gibt nicht weniger als vier Nummern auf der Innenseite des Deckels, die ich unter der Lupe entdecken konnte. Schlussfolgerung daraus – Ihr Bruder war oft in Geldschwierigkeiten. Zweite Folgerung – er war zeitweilig zu Wohlstand gekommen, sonst hätte er die Uhr nicht auslösen können. Schließlich bat ich Sie sich den inneren Rand mit dem Schlüsselloch anzusehen. Um das Loch sind Dutzende Kratzer, Zeichen dafür, dass er beim Aufziehen abrutschte. Welcher nüchterne Mann würde mit seinem Schlüssel so viele Furchen verursachen? Aber Sie werden nie eine Uhr eines Trinkers ohne Furchen und Kratzer sehen. Er zieht sie in der Nacht auf und hinterlässt mit unsicherer Hand diese Spuren. Was also soll daran rätselhaft sein?“
„Es ist sonnenklar“, antwortete ich, „ich bedaure Ihnen gegenüber ungerecht gewesen zu sein. Ich sollte mehr Vertrauen in Ihre hervorragenden Fähigkeiten haben. Darf ich Sie fragen, ob Sie derzeit einer geschäftlichen Anfrage nachgehen?“
„Nein, deshalb das Kokain. Ich kann nicht ohne geistige Arbeit leben. Wofür sollte man sonst leben? Stellen Sie sich hier ans Fenster. Gab es jemals eine so eintönige, düstere und unrentable Welt? Sehen Sie doch nur, wie der gelbe Nebel die Straße hinunter wirbelt und um die graubraunen Häuser treibt. Was könnte noch hoffnungsloser prosaisch und dinglicher sein? Wozu sind diese Fähigkeiten nütze, Doktor, wenn es kein Betätigungsfeld für deren Verwendung gibt? Verbrechen ist alltäglich, das Dasein ist alltäglich, und Eigenschaften, außer solchen, die alltäglich sind, haben auf dieser Erde keine Aufgaben.“
Ich wollte gerade den Mund öffnen, um seiner Tirade entgegenzutreten, als unsere Vermieterin mit einem forschen Klopfen an die Tür eintrat, und uns eine Karte auf einem Messingtablett brachte.
„Eine junge Dame für Sie, Sir“, sagte sie, sich dabei an meinen Gefährten richtend.
„Miss Mary Morstan“, las er vor. „Hm! Ich kann mich nicht an den Namen erinnern. Bitten Sie doch die junge Dame herauf, Mrs. Hudson. Gehen Sie nicht, Doktor. Ich zöge es vor, wenn Sie blieben.“
K APITEL II D IE S CHILDERUNG D ES F ALLS
Miss Morstan betrat den Raum mit festem Schritt und einer gefassten Haltung. Sie war eine blonde junge Dame, klein, elegant, mit vollendetem Geschmack behandschuht und gekleidet. Die Schlichtheit und Einfachheit ihrer Kleidung legte jedoch nahe, dass sie über begrenzte Mittel verfügte. Das Kleid war von dunklem gräulichem Beige, ohne Besatz und Bordüren, und sie trug einen kleinen Turban des gleichen dumpfen Farbtons, der nur durch den Hauch einer weißen Feder auf einer Seite aufgelockert wurde. Ihr Gesicht wies weder regelmäßige Züge noch eine Schönheit des Teints auf, doch war ihr Ausdruck freundlich und liebenswürdig und ihre großen blauen Augen waren außerordentlich vergeistigt und verständnisvoll. In meiner Erfahrung mit Frauen, die sich über mehrere Nationen und drei unterschiedliche Kontinente erstreckt, hatte ich noch nie ein Gesicht gesehen, das eine kultivierte und sensible Natur klarer verhieß als das Ihrige. Ich konnte nur feststellen, als sie auf dem von Sherlock Holmes dargebotenen Stuhl Platz nahm, wie ihre Lippen bebten, ihre Hände zitterten und sie alle Anzeichen heftiger innerer Erregung zeigte.
„Ich bin zu Ihnen gekommen, Mr. Holmes“, sagte sie, „weil Sie es einst meiner Dienstherrin, Mrs. Cecil Forrester, ermöglichten, eine kleine häusliche Komplikation zu entwirren. Sie war von Ihrer Freundlichkeit und Ihrem Geschick sehr beeindruckt.“
„Mrs. Cecil Forrester“, wiederholte er nachdenklich. „Ich glaube, ich erwies Ihr einen kleinen Dienst. Der Fall war jedoch, wie ich mich erinnere, sehr einfach.“
„Sie war nicht dieser Ansicht. Aber zumindest können Sie das nicht von dem meinigen sagen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es irgendeine seltsamere, höchst unerklärliche Situation als die meine gibt.“
Holmes rieb sich die Hände und seine Augen funkelten. Er lehnte sich in seinem Stuhl mit einem Ausdruck höchster Konzentration auf seinem klar geschnittenen Gesicht mit den falkengleichen Zügen nach vorn. „Schildern Sie mir Ihren Fall“, sagte er in einem schroffen geschäftsmäßigen Ton.
Ich befand mich in einer unangenehmen Lage. „Sie werden mich sicher entschuldigen“, sagte ich und erhob mich von meinem Stuhl.
Doch zu meiner Überraschung hob die junge Dame ihre behandschuhte Hand, um mich davon abzuhalten.
„Wenn Ihr Freund“, sagte sie, „so freundlich sein würde hierzubleiben, wäre das von unschätzbarem Dienste für mich.“
Ich fiel auf meinen Stuhl zurück.

„Kurz gesagt“, fuhr sie fort, „sind die Gegebenheiten folgende. Mein Vater, Offizier in einem indischen Regiment, sandte mich nach Hause als ich noch fast ein Kind war. Meine Mutter war tot und ich hatte in England keine Verwandten. Ich wurde jedoch in einem komfortablen Pensionat in Edinburgh untergebracht, wo ich bis zum Alter von siebzehn Jahren blieb. Im Jahre 1878 erhielt mein Vater, der ranghöchster Kommandant seines Regiments war, zwölf Monate Heimaturlaub. Er telegraphierte mir von London aus, dass er sicher angekommen sei, und wies mich an, sofort zu ihm zu kommen, wobei er als Adresse das Langham Hotel angab. Seine Nachricht war, ich erinnere mich, voller Güte und Liebe. In London angekommen, fuhr ich zum Langham Hotel, wo man mir mitteilte, dass dort ein Captain Morstan abgestiegen, jedoch den Abend zuvor ausgegangen und noch nicht zurückgekehrt sei. Ich wartete den ganzen Tag ohne eine Nachricht von ihm. Am Abend setzte ich mich auf Anraten des Hoteldirektors mit der Polizei in Verbindung und am nächsten Morgen inserierten wir in allen Zeitungen. Unsere Nachforschungen führten zu keinem Ergebnis. Und von jenem Tage an habe ich nie wieder etwas von meinem Vater gehört. Er kam in die Heimat voller Hoffnung, hier Frieden zu finden, Annehmlichkeiten, doch stattdessen…“ Sie hielt sich die Hand an die Kehle und ein erstickender Schluchzer brach den Satz ab.
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