Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2018
Copyright Cartland Promotions 1978
Gestaltung M-Y Books
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Die Passagiere des Dampfschiffes, das von Calais kommend den Kanal überquert hatte, beeilten sich, in Dover von Bord zu gehen. Trotz des Nieselregens schienen sie erleichtert und sichtlich froh, weil die Überfahrt hinter ihnen lag und sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten.
Ein junges Mädchen, in dessen grauen Augen eine Andeutung von Angst lag, kam langsam die Gangway herunter und stützte dabei eine ältere Frau. Es dauerte ziemlich lange, bis sie den Kai erreicht hatten, so daß die Passagiere hinter ihnen murrten und sie zur Eile anzutreiben versuchten.
Kaum hatten die beiden das nasse Pflaster des Piers betreten, schwankte die alte Frau, und dem Mädchen gelang es nur mit Mühe, sie zum Karren eines Trägers zu führen, damit sie sich darauf niederlassen konnte.
Stöhnend hielt die Frau die Hände vors Gesicht.
„Je suis malade, très malade.“
„Ich weiß, Mademoiselle“, sagte das Mädchen, „wenn Sie sich aber ein letztes Mal zusammennehmen, können wir noch den Zug erreichen, und Sie brauchen sich dann bis zur Ankunft in London nicht mehr zu rühren.“
Ein klägliches Aufstöhnen war die einzige Reaktion der Französin.
„Kommen Sie“, bat das junge Mädchen eindringlich, „es ist nicht weit. Stützen Sie sich auf mich, Mademoiselle, oder noch besser, ich lege meine Arme um Sie.“
Sie versuchte die ältere Frau hochzuziehen, vergeblich, wie es sich zeigte.
„Non, c’est impossible!“ flüsterte die Französin.
„Wir dürfen den Zug nicht verpassen“, drängte das Mädchen. „Bitte, Mademoiselle, Sie müssen es versuchen!“
Sie richtete ihre Begleiterin mühsam auf, doch plötzlich brach die alte Dame zusammen und blieb unbeweglich auf dem Boden liegen.
Entsetzt starrte das Mädchen auf seine Begleiterin.
Jetzt ging ihr auf, daß Mademoiselle wirklich krank sein mußte und nicht nur an den Folgen der Seekrankheit litt, wie sie zunächst vermutet hatte.
Die Überfahrt war stürmisch gewesen, so stürmisch, daß die Mehrzahl der Passagiere seekrank wurde, kaum daß das Schiff den Hafen von Calais verlassen hatte, und Mademoiselle Bouvais hatte ihr schon vor ihrer Abreise anvertraut, daß sie nicht seefest war.
Bettina aber hatte keine Ahnung gehabt, wie schlimm alles kommen sollte, noch ehe der Dampfer zu stampfen anfing, sich heftig hob und senkte, daß er auf offener See zu kentern drohte.
Wie schon oft während der Reise mußte Bettina auch jetzt daran denken, daß es reiner Wahnsinn gewesen war, ihr eine so betagte Begleiterin mit auf den Weg zu geben, obwohl sie genau wußte, daß Mademoiselle Bouvais von allen Lehrerinnen der Schule die entbehrlichste war.
Verzweifelt hielt Bettina nach Hilfe Ausschau.
Doch die Passagiere und die vorübereilenden Träger hatten für die reglos Daliegende nicht einen einzigen Blick übrig.
In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an eine ältere Dame, die einen freundlichen Eindruck machte.
„Bitte, können Sie mir helfen? Meine Begleiterin . .“
Sie wurde fast rüde beiseite gestoßen, und die Dame fegte mit raschelnden Seidenröcken, in ein warmes Pelzcape gehüllt, an ihr vorüber, dem wartenden Zug zu.
„Träger! Träger!“ rief Bettina, doch die Träger waren zu beschäftigt, um sie zu beachten. Sie schoben ihre mit Gepäck hochbeladenen Karren vor sich her, während die Besitzer der Koffer komplizierte Wünsche bezüglich des Platzes im Zug äußerten: „Erste Klasse in Fahrtrichtung“, „Ecksitz zweite Klasse“, „im Damenabteil“, „im Speisewagen.“
Was soll ich nur machen? fragte sich Bettina verzagt.
Ein Blick auf Mademoiselle Bouvais zeigte ihr, daß diese aschfahl war und die Augen geschlossen hielt. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun, denn Mademoiselle hätte ebenso gut tot sein können. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an einen Gentleman, der ohne Begleitung war.
„Sie müssen mir helfen!“ rief sie. „Meine Begleiterin ist tot oder liegt im Sterben, und kein Mensch hilft!“
Der Gentleman sah erst Bettina an und dann die auf dem Boden liegende Mademoiselle Bouvais, deren graue Haare unter dem Häubchen schon vom Regen durchnäßt waren.
Wortlos bückte er sich und nahm die Reglose auf die Arme, um sie ins Trockene zu bringen.
„Oh, ich danke Ihnen! “ sagte Bettina atemlos. „Sie litt schwer unter der Seekrankheit, und jetzt fürchte ich, daß ihr Herz das nicht gut verkraftet hat.“
„Das ist gut möglich. Ich halte es für angebracht, daß sich sofort ein Arzt um sie kümmert“, sagte der Gentleman.
„Sie meinen, schon hier in Dover?“
„Es gibt hier sicher ein Krankenhaus. Ich werde mich sofort danach erkundigen.“
Sie waren vor dem Wartesaal angelangt, und Bettina öffnete eilig die Tür, damit er seine Last hineintragen konnte. Mademoiselle Bouvais sah in seinen Armen klein und mitleiderregend aus. Sie war so blaß und ihre Haut so durchscheinend, daß Bettina meinte, eine Tote vor sich zu sehen.
Nachdem der unbekannte Gentleman sie auf die schwarze, mit Leder überzogene Sitzbank gelegt hatte, die eine Wand des Raumes einnahm, fühlte er ihr den Puls und stellte fest: „Sie lebt.“
„Gottlob!“ hauchte Bettina. „Ich hatte Angst... schreckliche Angst.“
„Das kann ich gut verstehen. Die Dame ist nicht mehr die Jüngste.“
„Sie ist die einzige Lehrkraft, die die Schule mir als Begleitung mitgeben konnte.“
Ihre Erklärung entlockte ihm ein kaum merkliches Lächeln.
„Warten Sie hier“, sagte er. „Ich erkundige mich, wie es hier um ärztliche Hilfe und ein Krankenhaus bestellt ist.“
Damit verließ er den Wartesaal. Bettina zog besorgt den Rock ihrer Begleiterin herunter, damit man die geknöpften Schuhe nicht sehen konnte, dann löste sie die Kinnbänder der Haube.
Mademoiselle Bouvais lag so leblos und bleich da, daß Bettina den Puls der alten Dame prüfte, als müßte sie sich vergewissern, daß der fremde Gentleman sich nicht getäuscht hatte.
Der Puls war schwach, so schwach, daß sie zunächst glaubte, sie bilde sich nur ein, etwas zu spüren. Zum Glück brannte im Kamin des Wartesaales ein wärmendes Feuer, ein Glück auch, daß der Raum leer war.
Der Lärm vom Bahnsteig her zeigte an, daß die Abfahrt des Zuges nach London kurz bevorstand. Sicher hatte der Träger unterdessen ihr Gepäck im Gepäckwagen verstaut und hielt nach ihnen Ausschau, um sich sein Trinkgeld abzuholen.
Als sie von Bord gingen, war er ihnen vorausgeeilt, im Vertrauen darauf, daß sie ihm folgen würden.
Falls Papa die Absicht hatte, mich abzuholen, wird er sich Sorgen machen, überlegte Bettina einen Moment lang.
Doch das war jetzt unwichtig.
Erst mußte sie sich um Mademoiselle kümmern und dafür sorgen, daß sie sich wieder erholte.
Plötzlich wurde sie von der Angst erfaßt, der freundliche Herr könnte sie im Stich gelassen haben, weil er den Zug nicht verpassen wollte. Doch als ein Pfiff ertönte und der Fähren-Expreß den Geräuschen nach losfuhr, wurde die Tür des Wartesaales geöffnet. Bettina stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, da der Gentleman in Begleitung eines Mannes in mittleren Jahren, der der Arzt sein mußte, eintrat. Dieser nahm sich sofort der Bewußtlosen an, fühlte nach einem kurzen Blick in ihr Gesicht den Puls, zog dann ein Stethoskop aus seiner schwarzen Tasche und horchte sie ab.
„Mylord, Sie hatten recht“, sagte der Arzt sodann. „Ein durch heftige Seekrankheit hervorgerufener Herzanfall. Leider ein häufiges Zusammentreffen.“
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