Seit den 1990er Jahren sind in den Bundesländern verschiedene Einrichtungen und Institutionen geschaffen worden, die die Polizeien auf der lokalen Ebene ›umgeben‹. In einigen Ländern bestehen unterschiedliche Formationen, in denen Nicht-PolizistInnen quasi-polizeiliche Tätigkeiten unter polizeilicher Leitung einnehmen: Der »Freiwilligen Polizeidienst« (Baden-Württemberg, seit 1963), die »Sicherheitspartner« (Brandenburg), die »Sicherheitswacht« (Bayern, Sachsen) und der »Freiwillige Polizeidienst« (Hessen). Diese Freiwilligen-Polizeien sind mit wenig eingriffsintensiven Befugnissen ausgestattet, laufen uniformiert (oder mit sichtbarem Erkennungszeichen) Streife, sollen durch gezeigte Präsenz für mehr Sicherheit(sgefühl) sorgen, sind mit Hilfsmitteln ausgestattet, aber allenfalls mit Pfefferspray bewaffnet.
Auf der institutionellen Ebene wurden seit den 1990er Jahren »Ordnungs-« und »Sicherheitspartnerschaften« gebildet. Dabei handelt es sich um Zusammenschlüsse unterschiedlicher Behörden, Verbände, Institutionen, Wirtschaftsunternehmen und BürgerInnen, die sich in vertraglicher Form verpflichten, gemeinsam zur Aufrechterhaltung der »öffentlichen Ordnung« beizutragen. Die Polizei soll gemeinsam mit den Beteiligten »Präventionskonzepte und Repressionsmaßnahmen erarbeiten, die jeder im Rahmen seiner Aufgaben und Kompetenzen umsetzt« (Schümchen 2016, S. 207). Derartige Vereinbarungen sind heute weit verbreitet.
1.2.3 Spezialpolizeien und -kräfte
Eine weitere polizeiliche Organisation ist die Bereitschaftspolizei (BePo). Im Unterschied zum »Einzeldienst« handelt es sich bei ihr um eine schutzpolizeiliche Einrichtung, die in geschlossenen Einheiten eingesetzt wird. Entsprechend ist die BePo in Hundertschaften, Züge und Gruppen organisiert. Ihre Gründung geht auf ein Verwaltungsabkommen zwischen dem Bund und den Bundesländern zurück. Im Bund (bei der Bundespolizei) und in allen Bundesländern bestehen Bereitschaftspolizei-Einheiten. »Führungs- und Einsatzmittel« der BePo sind einheitlich, sie werden aus dem Bundeshaushalt beschafft. Beim Bundesinnenministerium ist der »Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder« angesiedelt, die die BePo-Einsätze koordiniert; in bestimmten Fällen (Notstand, Katastrophen, Verteidigungsfall) kann er auch Polizeieinsätze führen. Die Bedeutung der BePo liegt in der Unterstützung der Landespolizeien bei »Lagen aus besonderem Anlass«. Das sind polizeiliche Großlagen, wie sie etwa bei Demonstrationen, bei Sportveranstaltungen oder sonstigen Ereignissen entstehen, bei denen PolizistInnen in großer Zahl in geschlossenen Einheiten eingesetzt werden sollen. Die BePo-Kräfte können von den Präsidien oder Inspektionen aus dem eigenen Bundesland oder auch aus anderen Bundesländern oder von der Bundespolizei angefordert werden. Im Jahr 2020 gehörten den Bereitschaftspolizeien insgesamt 16.400 PolizistInnen an (BMI 2020).
Zu den Spezialeinheiten, die regelmäßig vorhanden sind, gehören auch SEK und MEK. Bei den Spezialeinsatzkommandos (SEK) handelt es sich um schutzpolizeiliche Einheiten, die in besonderen Einsatzlagen wie Geiselnahmen oder Terroranschlägen zum Einsatz kommen. Sie können auch bei Durchsuchungen und Razzien oder bei Demonstrationen eingesetzt werden, sofern ein hohes Gefahrenpotenzial befürchtet wird. Die SEKs sind in der Anwendung unmittelbaren Zwangs besonders geschult; sie verfügen zudem über eine besondere technische Ausstattung und Bewaffnung. Die GSG (Grenzschutzgruppe) 9 des Bundesgrenzschutzes (der Bundespolizei) ist die bekannteste SEK-Einheit in Deutschland.
Die Mobilen Einsatzkommandos (MEK) sind kriminalpolizeiliche Spezialeinheiten, deren Aufgabe vor allen in der verdeckten Observation und ggf. in der Festnahmen Tatverdächtiger besteht. So wie die SEKs nur in besonderen Gefahrenlagen eingesetzt werden, so werden MEKs bei Ermittlungen wegen schwerer Kriminalität angefordert.
Die föderale Polizeiverfassung geht von dem Grundsatz aus, dass die polizeilichen Aufgaben von den Polizeien der Länder wahrgenommen werden. Nur in gesetzlich bestimmten Ausnahmen werden die Aufgaben von den Polizeibehörden des Bundes wahrgenommen. In dem Maße, wie die räumliche Mobilität zunimmt, wie die Kommunikationsströme beschleunigt und verdichtet werden, wie der gesellschaftliche Wandel (und damit auch die möglichen Gefahren einschließlich der Kriminalitätsentwicklung) in schneller Folge und durchschlagend alle Räume und Gruppen der Gesellschaft erfasst, stößt eine solches Modell föderaler Zuständigkeiten an seine Grenzen.
Im alten Modell wurden (und werden) die Probleme auf der politischen Ebene durch die Innenministerkonferenz und deren Arbeitskreise und auf der praktischen Ebene durch Kooperationsvereinbarungen mit dem Bund und den anderen Bundesländern bearbeitet. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine neue Kooperations- und Koordinationsform entwickelt, indem »Zentren« eingerichtet wurden, die – ohne spezifische gesetzliche Grundlage – Informationen austauschen und Aktionen koordinieren (sollen). An diesen Zentren sind nicht nur die Polizeien des Bundes und der Länder, sondern auch die Nachrichtendienste, die Staatsanwaltschaften und jeweils Behörden mit spezifischen Zuständigkeiten beteiligt (etwa das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder das Bundesamt für Wirtschaft und Außenkontrolle). Gegenwärtig arbeiten fünf Zentren. In den Zentren, die sich mit illegaler Migration (GASIM), der Internet-Auswertung islamistischer Inhalte (GIZ) und dem Schutz der Infrastrukturen vor Cyber-Angriffen (NCAZ) beschäftigen, sind nur Bundesbehörden beteiligt. Im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), das sich mit islamistischem Terrorismus beschäftigt, sowie im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) sind auch die Polizei- und Verfassungsschutzbehörden der Länder vertreten.
1.3 »Polizeiverfassung« im Wandel
Das Gefüge der Institutionen und Verfahren, die sich mit der »inneren Sicherheit« befassen, wird häufig als »Sicherheitsarchitektur« beschrieben. Diese befindet sich in einem endlos scheinenden Prozess von Organisationsreformen und rechtlichen Novellen, der einerseits durch externe Veränderungen bewirkt wird: neue Sicherheitsgefahren oder neue Bewertungen von Gefährdungen, Europäisierung und Globalisierung …. Andererseits resultieren die Wandlungen aus den Apparaten und Verfahren der Sicherheitsproduktion selbst, etwa die Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung oder die Professionalisierung im Bereich der verdeckten Methoden.
Den Kern dieser dynamischen Unübersichtlichkeit bilden zwei Entwicklungen: die institutionellen Verschiebungen und die präventive Ausweitung von Polizeiarbeit.
1.3.1 Institutionelle Verschiebungen
Die Basis des institutionellen Arrangements bildet der Umstand, dass Polizei in Deutschland im Grundsatz Länderangelegenheit ist. Das bedeutet, dass die Kommunen keinen rechtlich-politischen Einfluss auf die Polizei in ihrer Gemeinde haben. Zudem haben die Organisationsreformen zu immer größeren polizeilichen Basiseinheiten, zu einem ›Rückzug‹ aus der Fläche – im Sinne unmittelbarer Erreichbarkeit – geführt.
Die Diskrepanz zwischen Polizei-Politik als Landespolitik und lokalen Sicherheitsbedürfnissen sowie die ›Alltagsferne‹ spezialisierter Polizeiarbeit hat zu unterschiedlichen Reaktionen geführt. In einigen Bundesländern sind verschiedene Formen niedrig qualifizierter, eher auf Sicherheitssorgen und Ordnungsbeeinträchtigungen ausgerichteter »Polizeiarbeit« entstanden. Diese sind entweder formal als Polizeien mit verringerten Zuständigkeiten und Befugnissen eingerichtet oder binden BürgerInnen in die Polizeiarbeit ein. Die zweite Reaktion besteht und bestand darin, dass in den Kommunen selbst (wieder stärker) eigene Vollzugsdienste eingerichtet werden, die Ordnungswidrigkeiten verfolgen und durch ihre sichtbare Präsenz im öffentlichen Raum für mehr Sicherheit sorgen sollen.
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