1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 − Die Sensibilität, bestimmte Handlungen oder Sachverhalte als Kriminalität wahrzunehmen und dies den zuständigen Behörden zu melden, unterliegt starken Schwankungen, die Folge gewandelter Einstellungen in der Gesellschaft sind: Die körperliche Züchtigung der eigenen Kinder wird weitgehend nicht mehr als »natürliches Recht« der Eltern akzeptiert und deshalb häufiger von ZeugInnen zur Anzeige gebracht. Umgekehrt wird der Kleinhandel mit Cannabis von großen Teilen der Bevölkerung mittlerweile toleriert und deshalb nicht angezeigt.
− Einen Sachverhalt bei der Polizei anzuzeigen, kann als ein Vorgang wahrgenommen werden, durch den Konflikte an eine staatliche Instanz übertragen werden. Je anonymer, individualisierter, diverser und mobiler Gesellschaften werden, desto wahrscheinlicher ist, dass nicht länger auf die persönliche Problemlösungskompetenz vertraut wird. Wer die NachbarInnen nicht kennt, klingelt nicht bei nächtlicher Lärmbelästigung, sondern sucht Hilfe beim Amt; wer die Sprache der Eltern nicht spricht, sucht nicht das klärende Gespräch, wenn die Kinder in den Schulpausen handfest ihre Konflikte austragen, sondern ›zeigt an‹ … Die ›Nachfrage‹ nach Polizei kann deshalb auch als ein Indiz für die schwindenden Fähigkeiten zu ›zivilgesellschaftlicher‹ Konfliktlösung verstanden werden.
Insgesamt zeigt diese Übersicht, dass zwischen primärer und sekundärer Kriminalisierung erhebliche Unterschiede bestehen, die selbst wieder deliktischen und historischen Veränderungen unterworfen sind.
In der Diskussion über Kriminalität spielen die Begriffe »Hellfeld« und »Dunkelfeld« eine prominente Rolle. Als »Hellfeld« wird jener Ausschnitt kriminalisierter Handlungen bezeichnet, die vom Strafverfolgungssystem – namentlich der Polizei – wahrgenommen werden. Nimmt man den durch die primäre Kriminalisierung geschaffenen Raum als Bezugsgröße, so ergibt sich das Dunkelfeld aus den mit Strafe bedrohten Handlungen, die von den Ermittlungsbehörden nicht erfasst werden. Aus den o. g. Gründen ist das Verhältnis von Hell- und Dunkelfeld je nach Delikt unterschiedlich. Bei Delikten mit persönlichen Opfern oder mit großer Sichtbarkeit ist das Dunkelfeld kleiner, bei solchen ohne direktes Opfer mit geringer Wahrnehmbarkeit ist es größer. Darüber hinaus verändern sich die Relationen abhängig von der Verfolgungsintensität, den gesellschaftlichen Einstellungen, der Sensibilität in der Bevölkerung, der Erreichbarkeit und den Antworten des Strafverfolgungssystems und der öffentlichen Thematisierung.
Auskunft über das ›wirkliche‹ Kriminalitätsgeschehen zu geben, verspricht die »Dunkelfeldforschung«. Dabei bildet die primäre Kriminalisierung den Bezugsrahmen. Die Standardmethode der Dunkelfeldforschung ist die Befragung: Nach unterschiedlichen Kriterien definierte Gruppen von Menschen werden danach befragt, ob sie in einem bestimmten Zeitraum TäterIn, Opfer oder ZeugIn einer (und welcher) strafbaren Handlung waren. Aus den deliktsbezogenen Anzeigen und den Angaben aus den Befragungen lassen sich Hinweise auf das Dunkelfeld gewinnen.
Neben Interviews gibt es auch Versuche, über anderen Systeme Hinweise auf den Umfang ›wirklicher‹ Kriminalität zu gewinnen. Ein Beispiel ist die Auswertung der Meldungen bei Berufsgenossenschaften und der Gewalt an Schulen (s. zur Dunkelfeldforschung insgesamt: Heinz 2019, S. 315–348).
Polizeiliche Kriminalstatistik
In der Öffentlichkeit wird die »Polizeiliche Kriminalstatistik« (PKS) als wichtigster Indikator für die Kriminalitätsentwicklung wahrgenommen. Dies ist ein Missverständnis, denn in Wirklichkeit ist die PKS eine Statistik über die strafverfolgende Arbeit der Polizei. Wegen des ungeklärten, von Delikt zu Delikt wechselnden, von strategischen Wandlungen, von zivilrechtlichen und gesellschaftlichen Kontexten beeinflussten Relationen zwischen dem PKS-erfassten Hellfeld und dem Dunkelfeld taugt sie nicht, um ein verlässliches Bild des Kriminalitätsgeschehens zu geben.
Selbst in Bezug auf die bekanntgewordene Kriminalität erfasst die PKS nur einen Ausschnitt. Sie enthält keine Strafverfahren, die bei der Staatsanwaltschaft zur Anzeige gebracht wurden und bei deren Ermittlung die Polizei nicht eingeschaltet wurde. Durch Übereinkunft werden zwei Deliktsfelder in der PKS nicht ausgewiesen: Delikte im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr und sog. Staatsschutzdelikte, also Handlungen, die sich gegen den Bestand oder die Verfassung der Bundesrepublik oder der Bundesländer richten. Beide Bereiche sind in gesonderten Statistiken ausgewiesen, die aber von der Öffentlichkeit weitaus weniger Beachtung finden als die PKS.
Hinzu kommt ein weiterer Umstand: Bei der PKS handelt es sich um eine Anzeige- und Verdachtsstatistik. Hier werden die Ermittlungen ausgewiesen, mit denen sich die Polizei beschäftigt und die sie nach Abschluss ihrer Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft abgegeben hat. Die Polizei ist eine Einrichtung der Exekutive, sie ermittelt im Auftrag der Staatsanwaltschaft, die der rechtsprechenden Gewalt (Judikative) zugeordnet ist. Erst auf dieser Ebene findet eine juristische Würdigung der polizeilichen Ermittlungsergebnisse statt. Die Polizei kann Ermittlungen nur ablehnen, wenn offenkundig keine Straftat vorliegt (also die »zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte« nicht ersichtlich sind,
Kap. 1.3.1). Ob die strafrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind (die strafrechtlichen Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, die Beweislage den rechtlichen Anforderungen genügt etc.), das prüft die Staatsanwaltschaft. Selbst wenn sie sich zur Anklageerhebung entscheidet, gelten die Angeklagten bis zu einem Gerichtsurteil rechtlich als unschuldig. Erst in den Entscheidungen der Staatsanwaltschaft (Einstellung mit oder ohne Auflagen, Strafbefehl, Anklageerhebung) oder am Ende des Gerichtsverfahrens stellt sich heraus, ob es sich bei den in der PKS ausgewiesenen Ermittlungsverfahren tatsächlich um Kriminalität oder nur um den Verdacht auf eine kriminelle Handlung handelte.
Abb. 3: Kriminalität, Kriminalisierung und PKS
Obwohl die PKS ein unzureichendes Mittel ist, das Ausmaß und die Formen strafrechtlich verbotener Normübertretungen zu erfassen, wird sie regelmäßig für diese Zweck genutzt. Um den Stellenwert der PKS-Zahlen zu verdeutlichen, wird gerne auf verschiedene »Stufen« im Umgang mit Kriminalität verwiesen (
Abb. 4): Den Ausgangspunkt bildet dabei die Summe aller begangenen strafbaren Handlungen. Werden diese nicht bemerkt (die unauffindbare Geldbörse glaubt man verloren zu haben, obwohl sie gestohlen wurde …), bleiben sie für das Strafverfolgungssystem (und die öffentlichen Debatten) folgenlos. Werden sie bemerkt, steht die Frage im Raum, ob sie zur Anzeige gebracht werden. Hier spielen die genannten Faktoren eine Rolle, die die Anzeigebereitschaft beeinflussen. Erst wenn die Taten angezeigt werden, tauchen sie in der PKS auf. Im Rahmen der polizeilichen Ermittlung wird versucht, die Sachverhalte aufzuklären. Das Ermittlungsergebnis wird an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Werden keine Tatverdächtigen ermittelt oder sind die vorgelegten Beweise nicht ausreichend, wird das Verfahren eingestellt. Trotz erwiesener Tat kann die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren mit oder ohne Auflagen einstellen. Oder sie entscheidet sich für die Erhebung der Anklage, die das Gericht ablehnen oder
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