2.3.2 Zeugnisverweigerungsrecht
Zeugnisverweigerungsrecht bedeutet, dass jemand im Rahmen eines Strafverfahrens vor der Polizei, vor der Staatsanwaltschaft oder vor Gericht die Aussage verweigern darf. Wem die Strafprozessordnung kein Zeugnisverweigerungsrecht einräumt, muss wahrheitsgemäß nach bestem Wissen aussagen, ansonsten macht die Person sich selbst strafbar. Diese Pflicht wird durch den Sozialdatenschutz nicht außer Kraft gesetzt. Vielmehr gilt der Grundsatz, dass Schweigepflicht und Sozialdatenschutz für die Strafverfolgung und für die Gefahrenabwehr aufgehoben sind. In den §§ 68–73 SGB X wird dieser Grundsatz konkretisiert. Sie erlauben die Datenweitergabe an Polizei, Gerichte, Staatsanwaltschaften und die Nachrichtendienste. Dabei ist die Weitergabe immer daran gebunden, dass die Daten für die anfordernde bzw. erhaltende Stelle erforderlich sind, damit diese ihre Aufgaben erfüllen kann; nur bei Verbrechen oder »Straftaten von erheblicher Bedeutung« müssen alle Arten von Daten weitergegeben werden (s. Hundt 2019, S. 144–150).
Die Schweigepflicht nach § 203 StGB wird für das Strafverfahren durch die Bestimmungen zum Zeugnisverweigerungsrecht aufgehoben. In § 52 StPO wird das Recht, die Aussage zu verweigern, den engen Angehörigen des/der Beschuldigten zugesprochen (PartnerInnen, enge Verwandte). In § 53 wird dieses Recht auf »Berufsgeheimnisträger« ausgedehnt. Das Zeugnisverweigerungsrecht wird u.a. PriesterInnen, RechtsanwältInnen, ÄrztInnen, ParlamentarierInnen und JournalistInnen (immer im Hinblick auf die Informationen, die ihnen in dieser beruflichen Rolle bekannt wurden) zugesprochen. Für den Bereich der Sozialen Arbeit erlaubt der Paragraf die Aussageverweigerung nur in zwei Konstellationen:
»3a. Mitglieder oder Beauftragte einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist;
3b. Berater für Fragen der Betäubungsmittelabhängigkeit in einer Beratungsstelle, die eine Behörde oder eine Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt oder bei sich eingerichtet hat, über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist …«
Nur für die Tätigkeit in einer Drogenberatungsstelle oder in der Schwangerschaftskonfliktberatung dürfen vorgeladene ZeugInnen die Aussage verweigern. In diesen Fällen gewichtet der Gesetzgeber das Vertrauensverhältnis höher als das Interesse an der Strafverfolgung. Für alle anderen sozialarbeiterischen Tätigkeiten gilt dies nicht. Dass dies der Bedeutung des Vertrauens für viele sozialarbeiterische Tätigkeiten nicht entspricht, ist zuletzt am Beispiel der Arbeit mit Fußballfans betont worden (Schruth/Simon 2018, S. 48).
Neben dieser strafprozessualen Umwandlung der Schweige- in eine Aussagepflicht kann die Schweigepflicht noch durch andere Umstände aufgehoben werden:
• Betroffene können Sozialarbeitende von der Schweigepflicht entbinden.
• Im Rahmen der Nothilfe zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr bleibt die Verletzung der Schweigepflicht straffrei.
• Sofern andere Mittel versagen, ist beim Verdacht auf Kindeswohlgefährdung die Information des Jugendamtes zulässig.
• Und sofern es das Kindeswohl zulässt, besitzen Eltern eine Informationsanspruch über die Daten, die ihr Kind betreffen (Fischer/Sauer/Wabnitz 2019, S. 74–76).
Bedeutsam ist im Ergebnis, dass Sozialdatenschutz und Schweigepflicht nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass in den meisten sozialarbeiterischen Arbeitsbezügen eine Aussagepflicht besteht, sollte es zu einem Ermittlungsverfahren kommen. Dass dieser Umstand Rückwirkungen auf das Vertrauensverhältnis haben kann, sollte auch von SozialarbeiterInnen bedacht werden. Sie müssen abwägen, ob sie möglichst viel über ihre KlientInnen wissen wollen, um bestinformiert handeln zu können, oder ob sie auf Informationen verzichten, um ggf. nicht zum Schaden ihrer KlientInnen aussagen zu müssen.
Erfahren Sozialarbeitende von kriminalisierten Handlungen, so gilt für sie, was für jeden anderen Bürger/jede andere Bürgerin gilt:
Für begangene Straftaten besteht grundsätzlich keine Meldepflicht. Erhält jemand Kenntnis von einem Diebstahl oder einem Betrug, der bereits stattgefunden hat, so gibt es keine Pflicht, die Strafverfolgungsbehörden zu informieren.
Für geplante Straftaten gibt es hingegen eine – eingeschränkte – Meldepflicht. § 138 StGB bedroht jene »mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe«, wer
»von dem Vorhaben oder der Ausführung …
2. eines Hochverrats …, 3. eines Landesverrats …, 4. einer Geld- oder Wertpapierfälschung …, 5.eines Mordes …, 6. einer Straftat gegen die persönliche Freiheit …, 7. eines Raubes oder einer räuberischen Erpressung …
zu einer Zeit, zu der die Ausführung oder der Erfolg noch abgewendet werden kann, glaubhaft erfährt und es unterläßt, der Behörde oder dem Bedrohten rechtzeitig Anzeige zu machen«.
Der Straftatenkatalog des § 138 StGB beschränkt die Mitteilungspflicht auf geplante schwere Straftaten. Im Normalfall sozialarbeiterischer Praxis dürften die aufgeführten Delikte kaum auftauchen: Spionage, Geldfälschung, Mord, Geiselnahme, diese Delikte sind nicht nur empirisch selten, sie überschneiden sich auch nicht mit den Phänomenen, die bei den Klientelen der Sozialen Arbeit besonders häufig vermutet werden. Allein bei Raub und räuberischer Erpressung könnte die Mitteilungspflicht eine Rolle spielen, da z.B. das ›Jacke abziehen‹ strafrechtlich eine räuberische Erpressung darstellt (Cornel 1998, S. 2).
Zudem wird die Anzeigepflicht durch weitere Bestimmungen eingeschränkt: Unterlassene Mitteilungen sind nur dann strafbar, wenn die Information über die geplante Tat »glaubhaft« war und wenn ihre Mitteilung hätte »rechtzeitig« erfolgen können. Und mit der Formulierung »der Behörde oder dem Bedrohten« wird es den Betroffenen freigestellt, ob sie die Polizei oder den/die Betroffene/Betroffenen informieren. Deshalb schafft das Strafrecht selbst unter den genannten Einschränkungen keine Anzeigepflicht gegenüber der Polizei. Unter Strafe gestellt wird das Nichtstun; wer aber rechtzeitig die Betroffenen in Kenntnis setzt, handelt rechtmäßig. Diesen Konstellationen trägt auch das SGB X Rechnung, indem es ausdrücklich die Weitergabe von Sozialdaten »zur Abwendung geplanter Straftaten nach § 138 des Strafgesetzbuches« zulässt (§ 71 Abs. 1 Nr. 1 SGB X).
2.4 Eine idealtypische Gegenüberstellung
In den vergangenen fünf Jahrzehnten haben sich vielfältige Zusammenarbeits- und Kooperationsformen zwischen Polizei und Sozialer Arbeit entwickelt. Der Grad der Unterschiede variiert in der Praxis erheblich. Gleichwohl scheint es sinnvoll, die Pole zu benennen, aus denen das Spannungsfeld resultiert, in dem PolizistInnen und SozialarbeiterInnen (gemeinsam) handeln. Dabei handelt es sich nicht um eine Beschreibung der Realität, sondern um eine idealtypische Zuspitzung des institutionellen Kerns von Polizei und Sozialer Arbeit. Tabelle 2 zeigt die Unterschiede im Überblick (
Tab. 2).
Tab. 2: Idealtypische Gegenüberstellung Polizei und Soziale Arbeit

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