Nun bringt seine Tochter einen Drachen nach Hause. Der alte Tuareg bewegt seinen Kopf leise nach vorn. Er kann dieses kleine Reptil schon von Weitem riechen. Mit seinem untrüglichen Instinkt. Kein Kind der Wüste würde auf solch eine verfluchte Idee kommen. Einen echten lebendigen kleinen Drachen. Mit kaltem Blut und schuppiger Haut. Der Drachen als Omen. Er ruft sein Kind mit seiner ehrfurchterregenden Stimme. Sie reagiert sofort. Dann steht sie vor ihm und schaut ihn trotzig an. Sie weiß, was in ihrem Vater vorgeht.
„Mach die Hände auf, Tochter!“ Lea gehorcht. Die Schlange streckt sich sofort wieder aus. Für Lea sind die wenigen Minuten, die ihr Vater das Reptil betrachtet Ewigkeit.
„Sie misst dich, Kind. Sie wird dich solange messen, bis sie groß genug ist. Dann wird sie wissen, dass dein Körper in sie hineinpasst. Und dann wird sie dich verschlingen, mein Kind. Das ist ihr Instinkt, ihre Natur. Das ist das unausweichliche Schicksal, was dich erwartet. Nun, da sie hier ist, werden wir sie als Vertreter der Drachen ehren, doch bevor sie deine Größe erreicht, werden wir uns von ihr verabschieden müssen. Lebendig.“
Der Vater schaut ihr fest in die Augen.
„Verstanden?“
„Ja.“
Lea schüttelt den Kopf. Das ist Zustimmung. Das ist Wüste. So hat sie es gelernt. Auch wenn sie meistens sich selbst überlassen war.
Dann geht sie in das kleine Haus in ihre Ecke und nimmt eine kleine Schachtel aus ihrem selbstgebauten Holzschränkchen. Dort legt sie die kleine Schlange hinein, doch die windet sich an ihren Fingern schnell wieder in die Hand. Sie braucht Wärme. Lea legt sich in ihr Bett und hält ihr Schlangenbaby ganz nah an ihren Körper.
Nun ist es beschlossene Sache. Lea soll in ein ihr fremdes Land fliegen, für vier Monate, so ist es mit den entfernten Verwandten der Großmutter vereinbart. Die Großmutter berichtet ihr von Straßen mit geradlinig angeordneten Bäumen, großen Häusern und schönen Läden mit Blumen und Essen, vielen Anziehsachen. Von weißen Menschen, die fein und sauber angezogen sind. Berlin, dieses Wort hört sie zum ersten Mal. Berlin, Berlin. Lea konnte und kann und will sich darunter nichts vorstellen. Eine Stadt mit vielen Lichtern, eine Stadt mit Tausenden von Menschen, eine Stadt, in der die Zeit rennt. So eine Stadt muss hässlich sein, denkt sie. Viele Lichter, wozu? Hier am Rand der Wüste braucht sie abends kein Licht, Kerzen reichen. Wenn die Sonne sich senkt, möchte sie die kleinen zarten Lichter der Glühwürmchen nicht missen. Mehr will sie nicht. Keine Stadt mit vielen weißen hässlichen Menschen. Alles ist für sie hässlich, was nicht Bilma ist. Alles.
Die Großmutter wirkt nachdenklicher als sonst. Sie ist das Kind einer Deutschen und eines deutschstämmigen Franzosen, die während der französischen Besatzung 1920 zuhauf ins Land gespült wurden. Nach dem „Afrikanischen Jahr“ ging die Familie nicht zurück, zu sehr hatten sie sich an den Lauf der Wüste gewöhnt. So weiß Lea um ihre Geschichte.
„Du kennst doch Deutschland gar nicht“, hat Lea ihre Großmutter angeschrien, „wie kannst du mir erzählen, wie es dort sein soll!“
Die Großmutter schwieg und fing an zu weinen. Doch auch sie ging nach Deutschland, als sie jung war. Aus der Wüste, damals. Und wieder musste sie Deutschland verlassen, so wie ihre Mutter. Zwei Kriege. Als würde Familienschicksal vererbt. Und überall dieser Hunger, der sich in die Därme frisst. Neu verliebt im Unglück wieder in einen Franzosen. Doch das braucht Lea nicht zu wissen, sie ist noch so klein. Bewahren ist Schweigen. Bewahren ist Hüten. Bewahren ist Reinheit. Reinheit und Schönheit. Bilma ein Magnet, die Rettung. Die Zukunft vor der Vergangenheit schützen. Nur, was hat das mit ihr gemacht?
Diese Geschichte wird sie still und leise mit ins Grab nehmen, sie geht niemanden etwas an. Ihre Geschichte, für bittere und schöne acht Jahre in Deutschland bei ihrer Tante. Es fühlte sich damals wie ein Abenteuer an. Sie hat die Sprache vorher mit ihrer Muttermilch eingesogen. Vor allem, wenn ihre Mutter mit ihr schimpfte, tat sie es auf Deutsch. Dann hörte sich ihr Name Bernadette so hart an. Acht Jahre, die sie veränderten. Die ihr zeigten, es kommt immer anders, als man denkt. Wollte man planen, dachte sich der liebe Gott sofort etwas anderes aus. Seitdem denkt sie lieber nicht über die Zukunft nach. Die Zukunft, die ist launisch. Jetzt ist es Lea, die zu ihrer Tante gehen wird, um ihr Herz überleben zu können. Es gibt Lea nicht mehr viel Zeit. Sie selbst, das weiß sie, wäre beinahe dort in Deutschland umgekommen. Und sie hatte ihr Herz dort zurückgelassen. Ihr junges, frisches, unerfahrenes Herz. Lea wird nun genau in diesem Land ihr zweites Leben vorfinden.
Ihre Tochter Nana ist die erste aus der Familie, die sich hier in Bilma mit einem einheimischen Mann einließ. Die Erste. Es ist so selbstverständlich für Nana. Für die Großmutter, die selbst in Bilma ihre Kindheit verbrachte, kam das nie infrage. Sie hatte in der Liebe in blaue oder grüne Augen geschaut. So wie die Augen ihres Vaters. In das Meer wollte sie schauen, nur in das Meer und in den Sternenhimmel. Und anders wollte und konnte sie es sich gar nicht vorstellen. Und Nana? Ohne sie wäre dieses wundersame Kind Lea nicht auf die Welt gebracht worden. Manchmal braucht es nicht viel, überlegt die Großmutter, um seine Schöpfung zu rechtfertigen.
Dann besinnt sich die Großmutter. Sie richtet ihre Schultern auf und schaut Lea fest in die Augen.
„Du wirst bald nach Berlin fliegen und dann wirst du mir erzählen, wie es dort ist“, antwortet sie mit fester Stimme.
Lea geht nun regelmäßig an ihren heiligen Baum, hockt sich im Schneidersitz auf den Boden und lehnt ihren Rücken an seinen Stamm. Sie betet. Für sich, für ihre Eltern, für ihre Großmutter, für den Baum. Nicht für Deutschland. Vier Monate kann sie zeitlich nicht einordnen, für Lea ist es ein Abschied für immer, vier Monate sind eine Ewigkeit. Kurz überlegt sie zu fliehen. Doch wohin, in die Wüste? Dorthin hat sie ihren Vater, einen alten Tuareg, oft begleitet, manchmal mussten sie sogar mehrere Monate an entfernten Orten bleiben. Sie durfte sich nie mehr als drei Meter von ihrem Vater entfernen. Vor dieser Fremde hat sie Angst. Die Wüste und die fernen Handelsplätze scheinen feindlich zu sein für ein kleines Mädchen wie Lea. Das weiß sie ganz genau. Ihr sind auch die langen trockenen Wege durch endlosen Sand und die großen traurigen Augen anderer Kinder auf den verschiedenen Märkten im Gedächtnis geblieben. Außerdem ist sie ein auffälliges Mädchen, ihre Haut ist heller als die der Einheimischen und wenn Sonnenlicht in ihre Augen fällt, schimmern sie grünlich. Nur im Dunkeln wirken sie braun. Dann fällt Leas Blick auf ihre kleine Schlange, sie ist größer geworden und schaut sie jetzt aufmerksam an. Lea hat sich ihre Schachtel mit den länglich grünen Blättern der Pflanzen vom Ufer so an der Schulter befestigt, dass sie immer bei ihr sein kann. Manchmal bringt sie sie an verschiedene Orte, um ihr die Welt zu zeigen. Sie ist unverhofft anhänglich. Sie verlieren sich nie aus den Augen. Nur reden kann sie nicht mit ihr. So bleibt Lea mit ihren düsteren Gedanken allein. Ihre Heimat, ihre Eltern erscheinen ihr nun umso wertvoller, da sie ihr verloren gehen. Jeder Moment ist von zukünftigem Schmerz erfüllt in ihrer kleinen Brust.
Von Halle nach Berlin
Henriette liegt in ihrem Bett. Ihr rechtes Bein fühlt sich schwer an, es ist eingegipst. Viele Stunden verbringt sie nun allein zu Hause, der Schulweg ist noch zu beschwerlich. Tschibi, der kleine Wellensittich, leistet ihr immerhin Gesellschaft. Zusammen haben sie viel Spaß. Wenn Henriette durch die Wohnung humpelt, läuft er ihr langsam hinterher. Henriette muss vorsichtig sein, bei so einem kleinen Vogel. Henriettes Vater kommt, obwohl sie krank ist, weiterhin nur alle zwei Wochen nach Hause zu seiner Familie. Er muss arbeiten und studieren. Jetzt hat Henriette viel mehr Zeit, ihn zu vermissen. Nach vier Wochen kommt der Gips ab. Ihr Bein sieht schneeweiß aus, die Haut schuppt sich. Es fällt ihr schwer, sich wie früher zu bewegen. Außerdem erscheint ihr das rechte Bein dünner zu sein. So wie der Kontakt zur Welt. Ihre Freunde müssen sie vergessen haben, draußen lacht die Sonne, niemand besucht sie. Nun ist sie es, die bei Lena klingelt.
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