‚Was für ein Erbschaden?’, überlegt sie. Lange. Es findet sich keine Antwort auf das Absurde. Das musste sie nicht verstehen. Ihre Tränen sind jetzt versiegt; es waren einmal so viele, dass sie sie der Wüste nicht antun wollte.
Dann lernt sie Bernard kennen. Er ist Deportierter, irgendwann fliehen sie in die Wüste. Über Ungarn, Paris, dann mit dem Schiff. Sie schaffen das Unmögliche. Unterwegs, erinnert sie sich, essen sie alles. Sie gehen in die Nähe von Restaurants, schnappen sich Essensreste von Tellern, wenn die Gäste sich zum Gehen erheben. Niemand wird gefragt. Dass es sie ihre Würde kosten würde, zu fragen, das ist es nicht. Die Würde, die ist erst anwesend nach dem Schmerz im Gedärm. Er Franzose, sie Deutsche. Nana wird ihr die beiden verlorenen Töchter nie ersetzen. Das weiß sie so genau, darüber ist sie nicht bitter geworden. Nein, bitter nicht. Eher noch schöner in ihrer Einsamkeit. Eine Frau, ein Wort. Eine Frau, die nichts zu verlieren hat, denn alles, was sie jemals dachte zu besitzen, wurde ihr auf grausame Art und Weise genommen. Sie weiß, wie es ist, leer zu sein. Noch ganz jung weiß sie es. Auch wenn sie sonst nicht zu den Begnadetsten gehört. Die Sprache in Bilma, zungenbrecherisch. Doch auch das. Sie wird sich verständigen. Vor allem mit ihren Lieben. Und manchmal muss sie auch gar nicht reden. Wozu noch? Allein ihre Anwesenheit genügt. Mit ihr geht niemand respektlos um. Niemand. Jetzt gibt es noch Lea. Lea. Lea. Ihr Herz. Und eine Art Frieden, der sich in ihr ausgebreitet hat, in jeder ihrer Körperzellen spürt sie eine müde Entspannung, die ihr niemand mehr nehmen wird.
An diesem schicksalshaften Morgen wacht Lea auf, als ihr Land, die Sahara schon vollends der Sonne ausgesetzt ist. Die Luft über dem Sand flirrt vor Hitze und lauter kleine Fata Morganen lassen sich, wenn die Augen dort verweilen, ausmachen. Lea sieht die Salzbrote und die noch größeren Salzkegel, die ihre Mutter gerade für ihren Vater und die anderen Männer verpackt. Sie werden in den nächsten Tagen aufbrechen, nach Timia. Noch bevor der Harmattan, der stürmische Wind aus der Sahara, der noch viele wilde Kinder hat, den Sahel mit undurchdringlichem rotem Staubnebel überziehen wird. Das Brot für die Reise ist schon gebacken, Brot und Datteln sind der unverzichtbare Reiseproviant für die Männer mit ihren hochnäsig wirkenden Kamelen. Zerklüftete Felswände in der Ferne lassen die langatmigen trockenen Wege durch die Wüste erahnen. Ihr Vater wird sich auf seiner Route an die Sterne, die die Richtung gen Westen anzeigen, halten.
„Ajuan“, begrüßt sie ihre Mutter Nana, die kaum den Blick hebt, so sehr nimmt die körperlich schwere Arbeit ihre Konzentration in Anspruch. Dann sieht Lea ihre Großmutter mit ungewohnt großen Schritten auf sich und ihre Mutter zueilen. Sie kneift die Augen zusammen, erst nach genauerem Hinsehen sieht sie Papier in der linken Hand der Großmutter flattern. Als würde es sich sträuben, mit dem Tempo der alten Frau mitzuhalten. Weit hinter der Großmutter macht sie die Silhouette einer Karawane der Kel Ewey aus, die sich durch den Sand schlängelt. Sie brauchen bestimmt noch zwei Stunden, bis sie in der Oase Bilma eintreffen.
„Nana, Nana, schau nur, heute ist es endlich angekommen, zwei Monde habe ich gewartet!“ Lea hört aus der Stimme der Großmutter große Freude heraus. Leas Herz rutscht sonst wohin, doch es schlägt nicht mehr in ihrer Brust.
Der unheimliche Fahrstuhl
„Frühstück“, ruft die Mutter, der Duft von Toastbrot macht sich in der Wohnung breit. Henriette vergisst Tschibi im Bad und geht in die Stube. Dort sitzen ihre Mutter und ihre Schwester Susanne bereits am Tisch.
„Komm, du bist schon spät dran, wir wollen anfangen.“ Immer dasselbe, denkt Henriette, fügt sich jedoch. Dann knabbert sie gelangweilt an ihrem Marmeladentoast. Das verzweifelte Kreischen des kleinen Vogels unterbricht das Frühstück, ein kleiner Körper klatscht von innen gegen die Badezimmertür und fällt mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Henriette lässt das Toastbrot auf den Teller fallen und rennt durch den Flur.
„Ganz langsam die Tür öffnen, sonst zerquetschst du ihn“, ruft die Mutter ihr hinterher. Henriette versucht vorsichtig, die Tür zu schieben, mit der Hand tastet sie sich um die Tür herum und nimmt den kleinen Körper des Vogels vorsichtig in ihre Hand. Sie geht in ihr Zimmer und wartet mit Tschibi auf ihrem Teppich sitzend. Es ist ganz still. Ein Luftzug bewegt den hellen Vorhang, die Mutter hat die Fenster geöffnet. Der kleine Vogel kommt langsam zu sich, bleibt aber noch ein bisschen länger in ihrer Hand liegen als nötig und schaut Henriette aus seinen kleinen lustigen Augen aufmerksam an. Dann berappelt er sich, kommt auf seinen zwei Beinen wieder zum Stehen. Henriette führt ihn mit der Hand in den Käfig und setzt ihn vorsichtig auf den mit Sand bedeckten Boden. Tschibi beginnt benommen an den heruntergefallenen Hirsekörnern zu knabbern.
Es klingelt wieder. Das wird Lena sein, denkt Henriette. Sie läuft zum Fenster und schaut weit hinaus, um unter das Vordach des Hauseinganges zu lugen. Doch sie kann nicht erkennen, ob Lena allein oder mit mehreren Freunden dort ist. Über den Sprechapparat kreischt die helle Mädchenstimme: „Kann Henriette jetzt raus?“
„Ja, ich frag sie, wenn sie möchte. Wartet bitte. Und nicht noch mal klingeln!“ Die Mutter klingt streng. Dann geht die Tür zu Henriettes Zimmer auf.
„Ich geh schon.“ Lustig hüpft sie auf einem Bein, um rasch ein Hosenbein über das andere zu ziehen. Schnell noch einen Pullunder und eine Jacke an, schon schlüpft sie durch die Wohnungstür, läuft die drei wendelförmig angeordneten Treppen hinunter und rennt durch den mit gelbem, inzwischen verschmutztem Linoleum ausgelegten Flur. Dann drückt sie den Fahrstuhlknopf. Das Fahrstuhlgeräusch hört sich weit weg an. Es dauert gefühlt Jahre, bis er ganz oben ankommt. Mit einem roten Pullover und der hellen Stoffhose bekleidet steigt sie ein und genauso langsam fährt der Fahrstuhl wieder hinunter. Neun, sechs, drei. Die Zahlen in den Knöpfen leuchten rot auf und zeigen die Stockwerke an. Wissbegierig hat sie sie schon ausgiebig studiert, die Fahrstuhlarmatur.
Bleibt der Fahrstuhl stehen, und das kommt recht häufig vor, drückt Henriette meist alle Knöpfe. Die meisten im Anfall von Panik und Angst umsonst, auch den mit den entgegengesetzten Pfeilen. Der Knopf mit der Alarmglocke, den sie meistens zuletzt drückt, befindet sich ganz unten rechts. Der löst dann den befreienden Alarm aus. Kurz darauf gibt es über die Lautsprecheranlage einen Kontakt mit dem Hausmeister. Und Henriette muss nur noch auf Toilette. Schwitz. Und das Komische ist, es wiederholt sich immer wieder auf diese Art. Immer wieder.
Diesmal kommt der Fahrstuhl ohne Unterbrechung unten an. Henriette schiebt die schwere Eisentür nach außen auf, da stehen schon Lena und ihre Freunde. Vor ihnen eröffnet sich eine Betonwüste. Die Straße vor dem Hochhaus ist noch nicht befestigt, gelber Sand liegt hier und da lose und in kleinen Bergen angehäuft herum. Kein Baum ist gepflanzt, blaue Wolken schweben über Sand und Beton. Die Kinder laufen zielstrebig zur nächsten Baustelle, die sich nur ein paar Meter von ihnen entfernt befindet.
„Wir spielen Fangen“, schlägt Lorenz vor. Die anderen stimmen zu.
„Ich beginne“, Lorenz stellt sich an eine Betonwand, hält seine Hände seitlich von den Augen und fängt mit Zählen an: „Eins, zwei, drei, …“
Er hört das Rascheln und Trappeln seiner weglaufenden und sich versteckenden Freunde. Henriette klettert über einen Holzbalken, der eine Betonwand von der anderen trennt. Unter ihr klafft ein Abgrund von vier Metern.
Warte!“, flüstert sie Lena zu, die sich knapp hinter ihr anschließen will.
Der Balken ist zu biegsam und wackelig, um zwei kleine Menschenkörper zu halten. Doch Lena muss sich auch beeilen. Paul ist gleich mit Zählen fertig. Henriette spürt, wie der Balken unter ihr nachgibt, und hält sich mit beiden Händen am Betonrand fest. Fast hat sie die rettende Betonwand erreicht. Dann spürt das blonde Mädchen, sie kann sich nicht so lange halten. Stangenklettern war noch nie ihr Ding, denkt sie in den vergangenen Sekunden. Lieber ’ne Fünf kassieren. Ihre Oberarmmuskeln ziehen sich in die Länge und schmerzen, es ist ihr unmöglich, sich an der Wand hochzuziehen. Dann lässt Henriette los. Ihrem dumpfen Aufprall folgt noch ein dumpfes Geräusch: Lena.
Читать дальше