Die Abstände zwischen den Gitterstäben werden immer kleiner oder ist ihr Körper gewachsen? Ihr Kopf darf nicht wachsen, es ist jetzt schon ziemlich knapp. Sie hüpft die Treppe hoch und kommt aufwärts zu einem großen, überdimensional wirkenden Tor mit schwarzen Ornamenten aus Metall. Nur Riesen, denkt sie, können es öffnen. Dort vergisst sie nie, ihren Hund Kuno zu streicheln. Treu und beständig sitzt er dort, egal ob es regnet oder schneit. Sein Fell glänzt in der Sonne, gusseisern. Ihre zarten Hände streicheln über seinen bronzefarbenen, kühlen, glatten Kopf. Kuno, die einzige emotional stabile Komponente in Henriettes Leben, eine Statue aus Bronze. Kuno gibt ihr Mut, die Tage in der Schule durchzustehen. Einer Schule, die zu groß ist für Henriette. So wie die Tür vom Naturkundemuseum auf sie wirkt, wie aus einer anderen vergänglichen Zeit, so wirkt auch dieses alte Gebäude auf Henriette einschüchternd. Monströse Steintreppen, in die Länge wie auch in die Breite gezogene Flure und Räume mit Fenstern bis unter die Decke. Henriette fühlt sich im Gegensatz zu der kleinen beschaulichen Schule in Halle hier verloren. Verloren in Berlin. Mit einem einzigen Freund: Kuno. Zeit. Vergeht. Still.
Es geht nicht mehr. Henriette ist zwar nach oben gekommen, beide Füße stehen fest in den Zwischenräumen der Gitterstäbe, auch ihre Schulter ist schmal genug hindurchzuschlüpfen, doch ihr Kopf will nicht, kann nicht. Sie probiert es mit der rechten Gesichtshälfte zuerst, dann mit der linken. In welche Richtung sie ihr Gesicht auch neigt, mehr nach unten oder doch ein wenig nach oben, nein, verflixt, ihr Kopf passt nicht durch. Aua, aua. Die Schultasche liegt schon auf der anderen Seite auf dem Boden. Die Stirn beine an ihrem Kopf schmerzen, doch beim besten Willen, es geht auch mit Zähne zusammenbeißen nicht. Obwohl gestern? Da ging das noch. Henriette läuft nun schnell den Weg über die Zinnowitzer Straße außen herum. Jetzt hat sie den doppelten Weg, rennt in das Gelände des Museums, um die Tasche zu holen, die noch am Boden liegt, wie sie hofft. Kurz noch wirft sie einen Blick zu ihrem Wohnhaus. Hoffentlich kommt sie nicht zu spät. Doch mit Pascal, Karsten und Tom hat sie nicht gerechnet. Die drei Jungs grinsen breit und halten Henriettes Tasche siegessicher in ihren Händen. Henriette, die gerade die Biege passiert hat, rutscht der Mut in die Hose.
„Kommst du heute Abend zum Nordbahnhof? Dann kriegst du deine Tasche.“
Die Stimme gehört zu Pascal. Henriette nickt nur, ihr Herz klopft bis zum Hals und trommelt in ihren Ohren. Pascal nimmt die Schultasche und legt sie Henriette in den Arm. Dann gehen die drei laut grölend den Weg zur Schule. Henriette wartet noch ein bisschen, dann geht sie ihnen in einem Sicherheitsabstand hinterher und hofft, sie drehen sich nicht noch einmal um, um wieder zu ihr umzukehren. Heute kommt sie zu spät. Jetzt ist es auch egal. Ihre Schritte werden von ganz allein langsam. Den ganzen Tag kann sie nur an eines denken: Dass sie dort nicht hingehen wird. Nordbahnhof. Ihre Mutter würde sie niemals abends rauslassen und außerdem hat sie Angst vor den drei Jungs.
Sie weiß noch nicht, was es ist. Es ist da, es kommt, etwas, denkt sie; und spürt sie. Eine Wut, die langsam in ihr aufsteigt. Pascal kommt sich wahrscheinlich total cool vor.
Am nächsten Tag – Henriette nimmt morgens sofort den langen Weg zur Schule am Intershop vorbei –, ist Kuno weg. Henriette schaut einmal, zweimal. Er sitzt nicht auf seinem Platz. Sie beschleicht ein unwohles Gefühl. Langsam läuft sie weiter zur Schule. Im Klassenraum – sie fühlt sich immer noch fremd – steht sie vor zwei Klassenkameradinnen, mit denen sie sich unterhält. Plötzlich spürt sie eine Hand zwischen ihren Beinen. Henriette dreht sich um und sieht Pascal. Er schaut sie dreist an, Henriette hört fremdes Lachen. Es ist ganz still im Raum. Dann ein lautes Klatschen. Henriettes Hand auf Pascals rechter Wange. Pascal entweicht das Grinsen aus dem Gesicht. Henriette sucht den nächsten Tisch, den sie Pascal vor die Füße schießt, ebenso Stühle und andere Tische. Das Klassenzimmer sieht chaotisch aus.
„Das machst du nie wieder!“
Henriette erkennt ihre eigene Stimme nicht, die bis auf den Schulflur zu hören ist. Dann sieht sie die Lehrerin im Türrahmen stehen.
Autowüste
Die Großmutter hat sich um sämtliche Papiere für Lea gekümmert. Das Visum von der deutschen Botschaft, der Nachweis über die Gelbfieberimpfung und Flugpapiere. Iris und ihr Mann Bernd aus Deutschland haben eine Bürgschaft für Lea telegrafiert. Lea versucht in letzter Zeit immer, die Geschäftigkeit der Großmutter zu ignorieren. Die Schlange hat nun einen Namen. Kleopatra. Auch die Großmutter scheint sich zunehmend für Kleopatra zu interessieren. Stundenlang schaut sie ihr zu, wie sie sich durch das Gras windet, an den kleinen Wassernischen sich entlangschlängelt, nach kleinen Insekten schnappt. Sie empfindet etwas für dieses kleine kalte Wesen. Blaues Blut wird ihnen nachgesagt, ein Reptil, Schuppenhaut und doch lebendig. Ob sie ein kaltes Herz hat, ein grausames? Wie kann ein Lebewesen ohne Gefühle leben? Existieren? Das fasziniert die Großmutter, es fesselt sie. Die grausame Schönheit der Schlange steigert sich mit jedem gewachsenen Zentimeter. Grandios. Bernadette ist fasziniert. Lea bemerkt kleine Veränderungen an ihrer geliebten Großmutter. Der Blick wird manchmal, beim Betrachten des Schlangenbabys, so nennt Lea sie manchmal noch, fast starr. Als würde das heranwachsende Gift eine hypnotische Wirkung entwickeln, eine bisher nicht gekannte Magie von einem Fluch, getarnt in majestätischem Gewand. Und je mehr diese Magie von der Großmutter Besitz ergreift, umso mehr beginnt die nun misstrauische Lea Kleopatra instinktiv abzulehnen.
Einen Monat nach dem Aufbruch des Vaters in die Wüste bringen die Großmutter und Nana sie zum Flughafen. Der Lastwagen, mit dem sie zum Flughafen fahren, kommt mit einer Stunde Verspätung vor der Post mit quietschenden Reifen zum Stehen. Staub wirbelt auf. Der Abschied von Nana und der Großmutter ist kurz. Im Flugzeug riecht es komisch. Lea fliegt von Bilma nach Niamey mit einem klapprigen Zweimannflieger. Von dem sandbedeckten unbefestigten Landeplatz holt sie ein Flugbegleiter ab und bringt sie in eine große Halle. Der nächste größere Flieger geht über Casablanca nach London, dort bringt der Flugbegleiter das kraushaarige Mädchen in einen Zwischenbereich; er hat eine kleine Matratze und eine Decke mitgebracht. Sechs Stunden später fliegt sie direkt nach Berlin.
Berlin, eine Stadt, in die sie nicht will. Das fremde Land betritt Lea allein. Die Stimmen von vielen Menschen überfordern das Kind zeitweilig, bis sie sich vorstellt, es sind die Grillen aus der Wüste. Die vielen künstlichen Lichter schmerzen zuerst in ihren Augen, dann gewöhnt sie sich daran. Nicht gewöhnen will sie sich an die vielen fragenden Blicke. Sie überlegt sich, ob es wohl daran liegen könnte, dass sie aus einem dunkleren Haus schaut als die anderen. So ist es bestimmt der Großmutter ergangen, als sie als einzige Weiße mit ihrem Mann in Bilma blieb. Je näher Lea Berlin entgegenfliegt, umso mehr fürchtet sie, wird ihr dunkles Gesicht sehr einsam in viele weiße Gesichter schauen. Sie denkt an Kleopatra, die sie zurücklassen musste und die irgendwie einen Platz in der Familie einnimmt, den sie in ihrer kindlichen Gemütsverfassung nicht einordnen kann. Eine Schlange, ein Haustier?
Lea tritt auf die an das Flugzeug herangerollte Treppe und schaut in die Ferne. Die bietet der Flughafen Tegel im ersten Moment. Sie kann das weiße flache Flughafengebäude nicht so recht von dem Hintergrund des Himmels unterscheiden, die Sonne blendet sie. Ihre Augen haben sich so sehr an das künstliche Licht in den Flugzeugen gewöhnt. Intuitiv läuft sie den anderen Menschen hinterher. Es wird schon so richtig sein. Die Stewardess, die sich sehr freundlich um sie im Flugzeug gekümmert hatte, ist nicht mehr da. Immer lächelte die Stewardess sie während der Stunden im Flugzeug an, während sie kleines Gebäck und Getränke an die anderen Gäste austeilte.
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