Ich schaue ihn erneut an und antworte dann ein bisschen heiser: „Nenn mich nicht immer Wildkatze, du Ekel.“ Aber meine nach oben gezogenen Mundwinkel signalisieren ihm, dass ich es nicht wirklich allzu ernst damit meine. Verdammt, er sieht unverschämt gut aus und mein Herz rast schon wieder. Ob er ebenfalls an den Kuss denkt? Ob meine Vorliebe für dominante Männer auf diesem damaligen Erlebnis beruht? Diese Querverbindung des Kusses zu meinen sexuellen Vorlieben fällt mir zum ersten Mal auf. Gedanken fluten mein Hirn und ich bin für meine ansonsten glasklaren Verhältnisse ziemlich durcheinander. Er nannte es damals großzügig sein Abschiedsgeschenk und wohl nur wir beide wissen überhaupt von diesem Kuss!
Es war wie erwähnt am Tag, bevor er damals nach England flog. Ich hatte gerade mit Sabrina Hausaufgaben erledigt und wollte mich auf den Weg nach Hause machen. Sie war, nachdem wir uns oben in ihrem Zimmer verabschiedet hatten, im Bad verschwunden, um zu duschen. Ihre Eltern waren außer Haus. Ich war soeben dabei, mir meine Schuhe anzuziehen, als Alex zur Haustür reinkam, mich anschaute und fragte: „Ist das Wildkätzchen extra gekommen, um mir Lebwohl zu sagen?“ „Träum weiter, du eingebildeter Idiot! Außerdem bin ich froh, dich endlich loszuwerden“, antwortete ich ihm patzig, aber mit der vollen Inbrunst meiner dreizehn Jahre. Ich funkelte ihn wütend an, als ich mich an ihm vorbei zur Haustür durchzwängen wollte. Er hielt mich jedoch am Arm zurück und als ich ihn anschaute, war sein Blick irgendwie verklärt und nachdenklich. So hatte er mich noch nie angeschaut und ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging. Ich wurde verlegen und natürlich wieder einmal knallrot, wich einen Schritt zurück und spürte die Haustür in meinem Rücken, die mich blockierte. Ohne zu zögern, stellte er sich ganz nah vor mich hin, stützte seine Hände links und rechts neben meinem Kopf ab und sah mir wortlos in die Augen. Mein Herz pochte so wild, dass ich Angst hatte, es würde nächstens aus meiner Brust springen oder grad so schlimm, er würde es bemerken oder hören. In meinen Ohren rauschte es und mir wurde ein bisschen schwindlig. „Bist du dir da ganz sicher, kleine Kratzbürste?“, fragte er sanft mit einem Grinsen im Gesicht und schaute auf mich runter. „Wer würde denn ein Ekel wie dich schon vermissen?“, gab ich ihm schlagfertiger und frecher, als mir zumute war, zurück. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nur leicht, aber in ernster Tonlage antwortet er mir daraufhin: „Ich gebe dir jetzt einen Grund, damit du mich vermissen kannst. Mein Abschiedsgeschenk sozusagen!“
„Und dann küsste er mich! Erst nur sanft und mit geschlossenen Lippen. Abwehrend legte ich meine Hände auf seine Brust und versuchte, ihn von mir wegzustoßen, während ich gleichzeitig meinen Mund krampfhaft zusammenpresste. Aber er packte meine Arme, zog sie nach oben und hielt sie dort über meinem Kopf mit seiner einen Hand fest, während er mir mit der anderen unters Kinn fasste und meinen Kopf anhob. Dann küsste er mich erneut und diesmal forderte er mit seiner Zunge Einlass in meinen Mund … Ich hatte noch nie zuvor einen Jungen geküsst. Ehrlich gesagt fand ich es total widerwärtig und abstoßend. Sabrina war übrigens derselben Meinung! Wir amüsierten uns oft mit dummen Sprüchen, welche wir über die knutschenden Pärchen machten, während wir sie nachäfften.
Ich änderte meine Meinung über Küsse dann jedoch sehr schnell, denn seine Zunge in meinem Mund sorgte für Schmetterlinge im Bauch und ich begann, das Zungenspiel nach Kurzem nicht bloß zu erwidern, nein, ich genoss dieses köstliche, süße Gefühl. Tauchte komplett ein in diese für mich neue Welt und wollte eigentlich gar nicht mehr aufhören damit, weil es sich so fantastisch anfühlte! Als es dennoch irgendwann zu Ende war, er mich freigab und gleichzeitig einen Schritt zurück machte, traute ich mich kaum, die Augen wieder zu öffnen. Das Blut rauschte in meinen Ohren, mein Herz schlug rasend schnell und ich war völlig von der Rolle. Als ich die Augen nach Längerem endlich zaghaft wieder öffnete, war er bereits lautlos in seinem Zimmer verschwunden und hatte die Türe hinter sich geschlossen …
Verwirrt und von Gefühlen überwältigt machte ich mich mit immer noch wild klopfendem Herzen auf den Heimweg und beschloss danach, diese Szene aus meinem Gedächtnis zu löschen. Und bis heute war mir das ja scheinbar auch ganz gut gelungen! Das Essen kommt und Alex wird von seiner gegenübersitzenden Mutter in ein Gespräch verwickelt. Ich wende mich wieder Sabrina zu und die schaut mich erst mal ziemlich lange und grinsend an. Sie hat also doch was mitgekriegt. Mist! Denke ich und schüttle ganz leicht den Kopf, um ihr wie früher anzudeuten, dass ich jetzt nicht darüber reden will, und sie nickt mir verschmitzt zu. Ich fühle mich grad wieder wie eine Dreizehnjährige und lächle in mich hinein.
Für den Rest der Feier vermeide ich es jedoch ziemlich gekonnt, mich Alex nochmal zuzuwenden oder gar erneut ins Gespräch zu kommen. Seine Nähe macht mich sowieso schon nervös genug! Zudem sind Sabrina und ich längst wieder in unser Gequatsche vertieft. Es gibt Freundschaften, da kann man sich auch länger nicht sehen und sprechen, dennoch ist es beim Zusammentreffen, als wären keine Jahre verstrichen. Man setzt nahtlos und im selben Vertrauen mit derselben Offenheit dort an, wo man einander aus den Augen verlor.
Irgendwann löst sich die Gesellschaft allmählich auf und ich erwähne Sabrina gegenüber, dass ich auch gleich losfahre. Thor wartet sicher schon sehnsüchtig auf mich, auch wenn er in seinem großen Außenauslauf jederzeit seine dringendsten Geschäfte erledigen kann. Sabrina erklärt, dass sie noch bis Sonntag bei ihren Eltern bleibt und fragt, ob wir morgen Abend zusammen essen gehen wollen, was ich freudig bejahe, und wir verabreden uns um acht beim Italiener im Dorf.
Ich will gerade aufstehen, um mich von den übrigen Gästen zu verabschieden, als Alex sich bereits mit den Worten: „Ich geh mal kurz raus, um zu telefonieren, Mum. Bestell mir doch bitte noch einen Cognac, falls du die Kellnerin siehst“ erhebt und mir keine Zeit lässt, mich von ihm als Erstes zu verabschieden. Ich schaue ihm kurz nach und erhebe mich dann, schüttle, jedem noch am Tisch sitzenden Verwandten, die Hand und es werden ein paar Sätze getauscht. Sabrinas Mutter drückt mich lange und innig und bedankt sich, dass ich gekommen bin. „Lisa hat dich immer sehr gemocht und geschätzt. Du hast ihr sehr viel bedeutet, Alea. Du warst wie eine weitere Enkeltochter für sie. Ich möchte, dass du das weißt, meine Liebe.“ Nun kullern doch auch noch Tränen bei mir und wir schluchzen eine Weile gemeinsam um die Wette und spenden uns gegenseitig Trost.
Als ich die Verabschiedung endlich hinter mir habe, verschwinde ich auf dem Klo, um mein von den Tränen garantiert verschmiertes Augenmake-up zu überprüfen und die Fassung zurückzugewinnen. Ein langer Spaziergang im Wald, zusammen mit Thor. Das ist, was ich jetzt dringend brauche! Wenn ich Glück habe, ist Alex inzwischen wieder drin am Tisch bei seinem Cognac und es bleibt mir erspart, ihm nochmal in die Augen zu schauen. Und tatsächlich, als ich aus dem Restaurant rauskomme, ist weit und breit nichts von Alex zu sehen. Ich sollte mich erleichtert fühlen und frage mich, wieso da grad eine kleine, enttäuschte Stimme irgendwo in mir drin „Schade!“ seufzt. Ich ignoriere sie und freue mich darüber, dass es endlich aufgehört hat zu regnen und die Sonne sich sogar zaghaft schon wieder hinter den noch dominierenden Wolken hervorkämpft.
Zu Hause angekommen verbringe ich nach einem kurzen Kleiderwechsel zusammen mit Thor fast drei Stunden im Wald. Die Hälfte der Zeit sitze ich meditierend auf meiner Lieblingsbank am Teich, während Thor seine Späßchen mit den restlichen Waldbewohnern abhält. Ganz klar eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Das Ganze gibt meiner mentalen Stabilität ordentlich Auftrieb und ich fühle mich harmonisch, in meiner inneren Mitte und zufrieden mit mir und der Welt, als wir wieder zu Hause ankommen.
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