„Dann geh doch zu deinen Indianern und mach bei denen mit, irgendwo in der Verwaltung, was weiß ich …“
„… zu meinen Indianern?“, echote ich.
Sie lachte. „Das war nicht bös gemeint – aber ich weiß ja, dass du dich emotional so sehr mit ihnen verbunden fühlst, aufgrund deiner Vorgeschichte …“
„Ja – aber was wird dann aus dir? Gesetzt den Fall, ich finde wirklich ‘nen Job als Betriebswirt in irgend ‘ner indigenen Firma, falls so ein Posten überhaupt mal ausgeschrieben wird, etwa bei der Produktion und Vermarktung traditioneller Nahrungsmittel oder Solar-Energie oder was weiß ich, falls die mich da überhaupt haben wollen – und wo bleibst dann du???“
Wäre sie beispielsweise Ärztin oder Krankenschwester gewesen, so was wird ja immer gebraucht, oder auch Lehrerin, dann hätte sie ja dort Englisch und Deutsch unterrichten können und Hausaufgaben betreuen, aber so …?
Da kam mir Illona zu Hilfe – ausgerechnet mit dem, was so sehr zu ihr gehörte und was ich so lange als ihren typischen Wesenszug an ihr abgelehnt hatte: „Du – ich hab‘ da ‘ne Idee … wenn ich eh Kindergärtnerin werde – dann könnte ich doch auch drüben im Indianer-Reservat arbeiten …?“
Warum hatte ich nicht selbst daran gedacht? Also würde es doch eine gemeinsame Perspektive geben! Gemeinsam mit Illona, als meiner treuen Begleiterin, die sich tatsächlich dazu entschlossen hatte, mir dorthin zu folgen, mit dem Vorsatz, sich für die dortigen Kinder zu engagieren.
Ich begann gezielt, noch intensiver über die aktuellen Lebensbedingungen der Native Americans auf speziellen Websites zu recherchieren, mich über ihre Lebensweise zu informieren. Dabei stieß ich nicht nur auf jene deprimierende Daten und Fakten wie etwa 85% Arbeitslosigkeit und 60% Diabetes, sondern auch auf die Geschichte einer jahrhundertelangen Diskriminierung. Für die First Americans waren ja die europäischen Siedler diejenigen mit Migrationshintergrund, die oftmals als Flüchtlinge vor unhaltbaren politischen oder wirtschaftlichen Zuständen in die neue Welt kamen, in der verzweifelten Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Kartoffelpest in Irland, welche eine furchtbare Hungersnot ausgelöst hatte, war da nur ein Beispiel.
Die Natives hatten die ersten Siedler ursprünglich durchaus wohlwollend aufgenommen. Einige frühe Siedler wie William Penn träumten sogar von einer guten Nachbarschaft. Doch dann hatte die Gier der Weißen nach Land und Gold alles zerstört, die Einfuhr von Fusel und Feuerwaffen tat ein Übriges, den Rest besorgten eingeschleppte Krankheiten. Die Natives wurden von den Strömen weißer Einwanderer dezimiert, genau wie ihre Brüder, die Büffel. Als die Weißen erst einmal in der Überzahl waren, begannen sie, die Einheimischen als „Barbaren“ zu bezeichnen und an den Rand zu drängen, versuchten teilweise sogar, sie gezielt auszurotten … Die Diskriminierung setzte sich in den Köpfen fest. Indianerkriege – als jene nur ihr Stammesland verteidigten! – und als Gegenreaktion Genozide gegen die Urbevölkerung – fanden noch ihren Nachhall, als jene Zeiten des „Wilden Westens“ längst vorbei waren, die Prärie weitgehend gezähmt und befriedet, als vielerorts eingezäuntes Ackerland an die Stelle von freier Büffelweide trat …
Das Wort „Indianer“ kam mir immer unpassender vor: Es beruhte ja nur auf dem historischen Irrtum eines Herrn Columbus, der zeit seines Lebens vermeinte, den Weg nach West-Indien gefunden zu haben; zudem degenerierte das Wort „Indians“ bei den weißen Siedlern in Nordamerika sehr rasch zum Schimpfwort. Daher dann doch wohl besser: „First Americans“ oder „Natives“ oder am besten gleich die eigene Stammes-Bezeichnung. Wobei das Wort „Sioux“ ja auch gar nicht die echte Eigenbezeichnung war, sondern nur die Verballhornung einer Fremdbezeichnung durch einen feindlichen Stamm … Gut, so würde ich mir das Wort „Lakota“ merken – diese Selbstbezeichnung bedeutet zugleich „Alliierte, Verbündete, Freunde“ – also das genaue Gegenteil von „Sioux“, was von „Nadouessioux“ herstammt, einer Bezeichnung durch feindliche indigene Scouts, und so viel wie „Miese Schlange, Feind“ bedeutet.
Ironie der Geschichte, dass diese einfache Wahrheit so lange verkannt und mit Füßen getreten wurde: Die Menschen können Freunde sein, wenn man sie sich nicht zu Feinden macht.
Wir mailten intensiv mit der Reservatsverwaltung von Pine Ridge. Ja, man könne uns durchaus brauchen. Man könne jede helfende Hand brauchen, gerne. Wir sollten nur kommen. Das Schwierigste war noch, eine Green Card oder etwas Ähnliches als Visum zu bekommen – hier half uns eine internationale Hilfsorganisation, die auch einige Hauptberufliche neben ehrenamtlichen Helfern vermittelte.
Es dauerte eine ganze Weile – nervzehrendes, banges Warten. Illona hatte inzwischen ihre dreijährige Ausbildung als Erzieherin abgeschlossen, ich jobbte derweil als HiWi an der Uni und übernahm auch diverse Gelegenheits-Jobs wie als Aushilfs-Fahrer für eine kleine Firma. Etwas anderes fand sich derzeit ohnehin nicht für mich – hätte mir ein guter Job in Deutschland die Entscheidung, in die ärmste Reservation Nordamerikas zu gehen, vielleicht doch wieder schwerer gemacht? Ich wusste es nicht und wollte es auch gar nicht wissen. Ich wusste nur: Wenn ich nicht dorthin gehen und meine Mitarbeit vor Ort anbieten würde, dann würde ich mir wie ein Verräter vorkommen.
Dann kam der Tag. Vor dem Haus hielt der Flughafen-Shuttle. Illona hatte darauf bestanden, sich diesen kleinen Luxus zu gönnen und nicht mit dem Zug zum Flughafen zu fahren, wie ich vorgeschlagen hatte, denn sie meinte – sicher zu Recht –, dies würde auf Jahre hinaus wohl so ziemlich der letzte Luxus sein, den wir uns würden leisten können. So ersparten wir uns den umständlichen Weg zum Bahnhof mit Bus oder Straßenbahn und ließen uns direkt bis vor unser Abflug-Terminal chauffieren. Andererseits hatten wir ja auch brav einen Zuschlag fürs Flugticket zum CO2-Ausgleich bezahlt. Wir hatten die Wahl gehabt, über Chicago oder Denver nach Rapid City zu fliegen. Illona hatte sich für Denver entschieden, weil man von dort aus angeblich auf die Rocky Mountains blicken konnte. Das wollte sie sich nicht entgehen lassen.
Wir wurden wie durch Raum und Zeit katapultiert, und eine Zeitdifferenz von 8 Stunden ließ in uns das Gefühl aufkommen, dass wir ganz real unserer Zukunft entgegenflogen. Als Denver über den Bord-Lautsprecher angekündigt wurde, stieg unsere Aufregung noch.
Das mit den Ausläufern der Rockies stimmte sogar. In Denver stiegen wir um, in eine Regional-Fluglinie. Die nächste Überraschung war, dass der kleine Ziel-Flughafen von Rapid City aussah wie eine Mischung aus einem gemütlichen, großen Wohnzimmer und einem kleinen Indianer-Museum, mit Vitrinen voller Federhauben und Fotos aus der Western-Zeit. Draußen grüßten die Black Hills herüber als verkleinerte Version der Rockies. Das alles stimmte uns ja schon mal ein … Wir nahmen unseren vorbestellten Mietwagen und fuhren los …
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