2008 beschloss die US Air Force, 1,6 Millionen Dollar in Aufräumarbeiten zu investieren. Am 3. Oktober 2011 wurden die letzten vier bekannten Blindgänger kontrolliert gesprengt. Die Besitzer der Grundstücke bekamen allerdings nie eine ausreichende Entschädigung.
Die letzten bekannten Blindgänger, wohlgemerkt – und was, wenn noch weitere, übersehene, unbekannt und unerkannt im Boden schlummerten …? Den Detektoren entgangene, nicht detonierte Geschosse? Ehemalige Minenfelder sind bekanntlich nach wie vor latent gefährlich … Und hinzu kam ja noch die Belastung mit den Rückständen von womöglich giftigen Kampfstoffen und Schwermetallen, die den Boden kontaminierten …
Eifrig erzählte ich Illona von den Dritte-Welt-artigen Zuständen in den Reservationen, vor allem in der ärmsten von allen, Pine Ridge in South Dakota. Von der Perspektivlosigkeit bei 85% Arbeitslosigkeit erzählte ich, von den 60% Diabetes durch Fast Food, aber auch von der Tapferkeit der Menschen, die auf dem dürren Land ausharrten, das ihnen noch geblieben war – das gute Land hatten die weißen Siedler ihnen ja damals durch Vertragsbrüche weggenommen, als 1874 in den Black Hills Gold entdeckt worden war. Doch auch von den Widersprüchen erzählte ich, von Korruption und häuslicher Gewalt, von Alkohol und Drogen, aber auch von Wegen, da wieder herauszukommen. Und von den Hilfsorganisationen vor Ort, die Hilfe zur Selbsthilfe boten, damit aus einem kollektiv traumatisierten, entrechteten Volk wieder ein stolzes und selbstbewusstes Volk werden konnte. Vom Büffeljäger zum Büffelzüchter, zwischen Tipis und Trailern, im Spagat zwischen Tradition und Anpassung an die Moderne, zu der man sie ungefragt gezwungen hatte.
Das Thema „Hilfsorganisationen“ ließ mich irgendwie innerlich aufhorchen. Doch noch waren dies alles vage Gedanken: Die Hilfe durfte nicht von außen aufgezwungen werden, dachte ich mir, sie sollte nicht gönnerhaft geleistet werden, auch keine irgendwie erzwungene Wiedergutmachung … sondern einfach das Engagement von Menschen, die sich gemeinsam für eine gute Sache einsetzen.
Dann kam ein Erlebnis, das so ganz anderer Art war als alle bisherigen, und doch meinem Leben eine andere Richtung geben sollte, ja sogar unserer beider Leben. Es war wie der letzte kleine Anstoß, der noch fehlte. Wieder war ein schöner Tag, dazu Wochenende, und wir machten eine Fahrrad-Tour ins Grüne. Leicht und beschwingt eilten wir dahin, draußen vor der Stadt, zwischen den Feldern, auf geteerten oder sandigen Feldwegen. Gräser und Wildblumen nickten am Wegesrand. Wir waren einfach froh und befreit nach einer anstrengenden Woche und freuten uns, dem Stadtleben und seinem Stress zu entfliehen.
Am Sommerhimmel zogen Wolken, weiß und feierlich, auf ihrem Weg in ferne Länder. Da es sehr warm war, machten wir Rast am Wegesrand und setzten uns auf einen großen Feldstein. Erhitzt tranken wir von unserem isotonischen Sportler-Drink. Dabei beobachtete ich entspannt die weißen Sommerwolken. Eine der Wolken hatte es mir ganz besonders angetan, sie quoll auf und veränderte ständig ihre Formen. Das war spannend, und ich sah ihr zu.
Die Wolke vor mir zerfloss im Himmelsblau. Strahlend weiß war sie, und mächtig, dabei leicht wie Federflaum. Es war eine Mischung aus Haufenwolke und einem Hauch von Eiswolke, ausgebreitet zog sie dahin wie auf weißen Schwingen – aber ja, es waren riesige Schwingen, und die Wolke quoll weiter auf und nahm Form an, und jetzt glich sie eindeutig einem Adler. Einem überdimensionalen, weißen Adler.
Inzwischen hatte ich einen Blick für so etwas bekommen, und ich nahm die Wolkenbotschaft ernst, als eine Manifestation des Großen Geistes. Für mich war das nicht mehr bloß eine Wolke, die zufällig wie ein weißer Adler aussah. Sie WAR für mich zur Darstellung eines Adlers geworden, vom Weltgeist aus seinem lebendigen, kreativen Lufthauch geschaffen, damit ich sie sah und als Symbol verstand. Der Große Geist hatte diese Wolke für mich geschaffen, um mir etwas mitzuteilen. Es konnte kein Zufall sein, einen perfekten Wolken-Adler an den blauen Sommerhimmel projiziert zu finden, so als sei ein realer Adler als Figur dort zu sehen wie ein gigantisches Dia-Bild, nur eben als weiße Silhouette. Es stimmte alles: der Kopf, der gebogene Schnabel, die Proportionen, die ausgebreiteten Schwingen, ja sogar die gezackten Schwungfedern und der fächerförmig ausgebreitete Schwanz. Auch Illona neben mir sagte: „Oooooh … schau mal: Die Wolke da sieht ja genau aus wie ein Adler!“
Du siehst es also auch, dachte ich erleichtert, ich mache mir also nichts vor – diese Wolke da ist wirklich ungewöhnlich – jeder sieht das, wenn er nur einen halbwegs aufmerksamen Blick hat für seine Umwelt!
Und wir schauten fasziniert weiter nach oben, mit staunenden Blicken, ich glaube, mir stand dabei der Mund offen wie bei einem Kind, doch das machte gar nichts: Die Natur ist großartig und erschafft immer neue, erstaunliche Formen, flüchtig und vergänglich, doch von einer kraftvollen Dynamik.
Und der Wolken-Adler wirkte auf meine Sinne. Nicht nur auf meine Augen, die ich andächtig zu ihm empor hob, sondern auch auf meine inneren Sinne. Ich hörte in mir quasi seine Botschaft: „Nimm deine vergangenen Leben ernst und kehre dorthin zurück, zu den Nachfahren eurer gemeinsamen Ahnen, und gib den Menschen und der Natur dort etwas zurück von dem, was ihr ihnen durch euer modernes Leben und die Gier einer materialistischen Gesellschaft genommen habt. Ihr seid alle Brüder. Gib ihnen Respekt und Anerkennung zurück, und hilf ihnen, die Reste der Natur zu schützen, die gegenwärtig global so rücksichtslos zerstört wird!“
Es war mir plötzlich ganz klar, dass diese Botschaft aus der Natur zu mir herüber kam, ganz ohne Worte, als große, einfache Gewissheit. Ich war ergriffen von der Bestimmtheit, mit der ich wahrnahm, dass ich jetzt Ernst machen musste mit einer neuen, ganzheitlich-ökologischen Lebensweise, und mit der Suche nach meinen verschütteten Wurzeln. Es war fast so etwas wie eine kleine Vision, die ich da hatte, als ich die Botschaft des Wolken-Adlers für mich erkannte. Ich war jetzt und hier ein Weißer, ein Jugendlicher aus Europa – doch welchen kulturellen Brückenschlag würde ich konkret nach drüben machen können, ins Land der rollenden Hügel der Prärie? Ehrlich gesagt – ich hatte keine Ahnung.
Wir saßen da auf dem sonnenwarmen Stein, und ich begann eine Diskussion über unsere Zukunft – der Zeitpunkt schien mir jetzt gekommen, während der Wolkenadler entschwebte und sich wie ein Spuk in andere Wolkenbilder auflöste. Der Hauch des Großen Geistes. Nun durfte das Ganze nicht in die Esoterik-Ecke abdriften, sondern es sollte etwas Praktisches, für Umwelt und Gesellschaft Nützliches daraus werden.
„Du“, sagte ich zaghaft, aber bestimmt, „ich – ich würde gern, dass wir beide nicht so einfach drauflos leben, gedankenlos und nachlässig, sondern uns irgendwie sozial und im Umweltschutz engagieren …“
Illona nickte erfreut. Damit hatte ich einen Nerv bei ihr getroffen. Ermutigt fuhr ich fort: „Ich hab ja nun VWL mit Wahlfächern in BWL studiert – da würde ich ganz gern, also planerisch bei der Betriebsführung einer Grassroot Organization mitmachen oder so –“ Noch etwas vage zuckte ich die Achseln. „Aber es müsste schon was sein, wovon ich – wovon wir leben können, kein ehrenamtliches Coaching also, so gern ich das auch machen würde …“ Meine vagen Pläne waren noch wie das Tasten im Dunkeln, das Stochern im Nebel. „Irgendwie so was, halt …“, sagte ich hilflos.
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