Doch sie ließ sich von diesem humorvollen Ablenkungsmanöver nicht beirren. Sie spürte: Es war mir ernst mit meinen Aufzeichnungen. Ich glaubte jedes Wort. Und dann spürte ich: Sie glaubte es auch. Rasch durchblätterte sie meine Aufzeichnungen, las hier und da stichprobenartig und verkündete dann: „Du – das muss ich mir alles mal in Ruhe zu Gemüte führen …! Das ist ja ganz schön starker Tobak!“
Und nach einem Augenblick des Nachdenkens: „So viele Details kann man gar nicht darüber wissen, wenn man nicht wirklich dabei war und das nicht alles selber erlebt hat!“
Kaum war das zarte Pflänzchen unserer Beziehung aus der Asche des ersten Scheiterns, das wir hinter uns gelassen hatten, wieder aufgekeimt, waren wir beide bemüht, möglichst rasch alles nachzuholen, was uns damals entgangen war. Ein probates Mittel dazu war, außer natürlich Küssen und mehr, möglichst viel gemeinsam zu unternehmen.
Da wir beide nicht die ausgewiesenen Disco-Typen waren, sondern es uns mehr in die Natur hinaus zog – etwas, das wir beide gemeinsam hatten –, beschlossen wir, einen Naturlehrpfad näher kennen zu lernen, von dem Illona schon öfters gehört hatte und den sie sich mal genauer ansehen wollte, weil sie sich besonders auf Naturpädagogik spezialisierte: Naturerfahrungen für Kinder, zum Anfassen, Entdecken, Erkunden.
„Oh ja – das ist sicher interessant – auch für uns Erwachsene!“, stimmte ich zu – inzwischen meinte ich es sogar ernst.
So fuhren wir mit der Seilbahn hinauf auf den Berg, der uns in den Wald über der Stadt brachte. Dort oben waren verschiedene Waldwege als Trimmpfade, Panoramawege und eben auch als erlebnispädagogische Lehrpfade ausgewiesen, für Erwachsene wie Kinder. Für die Großen gab es bunte Schautafeln mit Erklärungen über das Ökosystem Wald und seine Bewohner, für die Kleinen gab es Waldspielplätze, Klanghölzer, mit der Motorsäge zurechtgeschnitzte Holztiere und vieles mehr.
Sogar ein Grillplatz für Familien war dort angelegt, mit Holzschindel-gedecktem Wetterdach. Illona war ganz begeistert von den Möglichkeiten, die ihre Kindergarten-Kinder (und irgendwann unsere eigenen, dachte ich nun ohne jene frühere Beklommenheit) vorfinden würden, um Eicheln und Kastanien, buntes Laub und Federn, weiches Moos und raue Borke zu sammeln, zudem mit wachen Blicken Waldvögel, Käfer und Eichhörnchen zu beobachten …
Und dann stießen wir auf die Falknerei. Sie war ein beliebtes Ausflugsziel, doch wir gelangten eher zufällig dorthin. Doch was ist schon Zufall?
Diesmal war ich der Begeisterte, und Illona setzte sich geduldig zu mir, als wir Eintrittskarten für die Flugvorführungen der Greifvögel gelöst hatten und auf hölzernen Bänken auf der kleinen Lichtung im Walde Platz nahmen. Es gab Vorführungen für Jung und Alt, für Erwachsene, gerne auch Familien mit kleineren Kindern, und Schulklassen, um die Jugend an die Tierwelt heranzuführen und sie für die Natur zu begeistern.
Der Falkner und seine Gehilfin waren mit Herzblut dabei, sie erzählten uns spannende Dinge aus dem Leben der Greife, führten uns deren faszinierende Flugkünste vor, wie sie nach dem kreisenden Federspiel jagten und sich ihre Belohnung in Form von toten Eintags-Küken holten. Hier sah ich viel mehr Sinn im kurzen Leben dieser Küken, als wenn diese einfach nur als Müll geschreddert würden, quasi als „Abfallprodukt“ einer qualvollen Massentierhaltung … Hier, in den Klauen und Schnäbeln der hungrigen Greife, machte der Tod der Küken wenigstens noch insofern Sinn, als dass er den zahmen Greifvögeln und anderen Zootieren half, zu überleben …
Der Falkner versicherte uns, es liege ihm sogar sehr viel daran, die Tiere nicht nur als seine Gefährten zu halten, sondern sich auch an Zuchtprogrammen für gefährdete Greifvögel zu beteiligen; er würde also nach einigen Jahren seine Tiere an Zoos abgeben, aber nur, wenn sie auch Flug-Volieren hatten, damit seine Tiere das Fliegen nicht verlernen würden. Das gefiel uns sehr.
Dem Publikum vorgeführt wurden Falken, Eulen und – Adler!
Zu Adlern hatte ich aufgrund meiner ungewollten Rückführung ja nun ein ganz besonderes Verhältnis … und schon begann mein Herz wieder vor Aufregung schneller zu schlagen, so wie bei einem Rendez-vous mit Illona … in meinem Hinterkopf begann sich ein abenteuerlicher Gedanke zu bilden!
Adler sind den First Americans heilig – das weiß jedes Kind. Aber warum? Weil sie so stark und kampfkräftig sind, so sprichwörtlich scharfe Augen haben, von allen Vögeln am höchsten fliegen können, weil ihr Mut und auch ihre partnerschaftliche Treue so beeindruckt – Letzteres wissen hierzulande nur wenige, ich hatte es hingegen damals selbst erlebt! Und: Die Adler haben für Reiki-Sensitive eine ganz besondere Kraft, eine Ausstrahlung, eine Aura – die so genannte wanblí wówash’ake, Eagle power, wie ich bei meinen Online-Recherchen über die Natives und ihre Naturvorstellungen herausgefunden hatte – und diese war eine spirituelle Kraft, wówakan, da der Adler zugleich auch der kleinere Bruder des Donnervogels ist, des Wakínyan– da soll er wohl die Kräfte der Lüfte und des Windes in sich tragen –, und genau diese Kraft wollte ich nun gerne einmal selbst erleben!
Ich weiß – das alles mag für einen modernen, wissenschaftlich „aufgeklärten“ Europäer bizarr klingen –, aber möge er doch selber mal ein zahmes Tier streicheln, gar zu einem Wildtier Kontakt aufnehmen –, und er wird die Kräfte fließen fühlen, da bin ich sicher. Sogar bei Pflanzen spürt man ja deren Kräfte, etwa bei Bäumen. Um wieviel stärker, geradezu elektrisierend, mussten da die Adler-Kräfte sein!
Und ob ich an so was wie den Donnervogel glaubte? Natürlich glaubte ich das, was uns die Wissenschaft erzählt, also etwa, dass Blitze elektrische Entladungen sind – doch wer hat je schon einmal ein Elektron mit eigenen Augen gesehen? Konnte nicht irgendwie beides wahr sein: Es gab Elektronen – und eben Donnervögel? War nicht das eine ein moderner, wissenschaftlicher Mythos und das andere ein traditioneller? Waren es nicht beides eine Art Mythen, um sich als Mensch die Welt erklärbar zu machen? Ein moderner Mythos, um abstrakte Berechnungen von Forschern zu veranschaulichen, und ein uralter, um das Wettergeschehen irgendwie ansprechend zu deuten … Und wenn diese Erklärungen stimmig waren – war nicht dann beides, Elektron und Donnervogel, irgendwie „wahr“? Die Lakota behaupten jedenfalls genau dieses, wie ich später bei ihnen erfahren sollte. –
Doch zunächst einmal bemühte ich mich, das Vertrauen des Falkners zu gewinnen. Wir kamen wiederholt an Wochenenden in seine Vorführungen, spendeten auch für ein Vogelschutz-Projekt, kauften jeder ein T-Shirt mit Adler-Motiv – kurz, wir zeigten unser ganzes aufrichtiges Interesse. Ja, unseres: denn auch Illona war rasch der Faszination dieser majestätischen Greifvögel erlegen! Auch das brachte uns emotional noch näher zusammen.
Mir ging es mit dem Falkner irgendwie ähnlich wie mit Illona: Ich spürte, ich musste erst behutsam eine tragfähige Basis des Vertrauens aufbauen, ehe ich mich mit meinen Wünschen weiter vorwagen durfte. Daheim recherchierte ich auch fleißig im Internet über Adler, um mit dem Falkner und seiner Frau, die zugleich auch seine Assistentin bei den Flugshows der Greife war, über diese herrlichen Tiere fachsimpeln zu können. Immer öfter blieben wir daher auch nach Ende der Flugvorführungen da, wenn sich die anderen Besucher schon längst zum Ausgang begeben hatten und wir in dem Areal nunmehr allein waren.
Und dann, an einem schönen, heißen Sommertag, wo es hier auf der Waldlichtung besonders angenehm kühl war unter dem Schatten der großen Laubbäume, an einem Tag, der einfach perfekt war, wagte ich es, mein Anliegen vorzubringen: … ob man nicht einmal selbst solch einen Greifvogel auf den Arm nehmen dürfe, um ganz dicht in Kontakt mit ihm zu sein, um zu spüren, wie sich das anfühlen würde ….?
Читать дальше