Der Falkner sah mich genauso erstaunt an wie Illona. Der hatte ich zuvor nämlich nichts davon erzählt. Der Falkner schwieg. Sah mich an. Aus zusammengekniffenen Augen, die in seinem sonnengebräunten, hageren Gesicht selber leuchteten wie Falkenaugen. Er schwieg lange. Ich begann, mich unbehaglich zu fühlen, so, als hätte ich eine unsichtbare Grenze überschritten. Gerade wollte ich einen Rückzieher machen und sagen: „Entschuldigung, es war einfach nur so eine Frage, eine Idee von mir …“, da nickte er bedächtig und sagte: „Wir fangen aber nicht gleich mit dem großen Adler an – der ist was für Fortgeschrittene! Wenn du Tiere wirklich liebst, dann wirst du zunächst mal meine kleinen Falken genauso schätzen –“
– Ich nickte –
„– gut, dann vertraue ich dir als Erstes einmal meinen Lieblings-Falken an. Der ist nicht etwa deswegen mein besonderer Liebling, weil ich ihn toller fände als die anderen und irgendwie bevorzugen würde – ich liebe und bewundere alle meine Tiere, die in meiner Obhut sind –, sondern weil er so zahm ist, dass ich ihn bei Vorführungen für Schulklassen sogar bei von den Lehrern ausgewählten, besonders zuverlässigen Kindern mal auf der Hand sitzen lassen kann! Mit dem fangen wir an!“
Begeistert nickte ich, und ich war so aufgeregt, als sei ich selber ein großes Schulkind, das gleich die ungewöhnliche und beglückende Erfahrung einer Begegnung mit solch einem herrlichen Vogel machen durfte …
Geruhsam löste der Falkner die Leine seines zahmen Falken. „Es ist ein Saker-Falke“, erläuterte er dabei, „in ihrer Heimat sind sie bedroht, übrigens auch durch illegale Entnahme von Eiern und Jungvögeln aus den Nestern. Verantwortungslose vermeintliche Tierliebhaber zahlen sagenhafte Preise für die Tiere – unsere Tiere hier gehen in Zuchtprogramme, sobald sie voll ausgewachsen sind …“
Der Falke flatterte routiniert und vertraut auf einen Wink des Falkners hin auf dessen Handschuh. „Die Tiere sind frei, und doch bleiben sie bei uns – wie durch ein unsichtbares Band an uns gekoppelt!“, sagte er und streichelte das zimtbraune, dunkel gestrichelte Gefieder seines geflügelten Freundes. „Er könnte jederzeit wegfliegen – manchmal tun sie das auch für eine längere Exkursion –, doch sie kommen immer wieder. Ich glaube, ich bin nicht nur ihr Futtergeber – denn jagen könnten sie durchaus für sich selber. Ich hoffe – es ist wirklich so was wie Freundschaft …“ Auf einmal wurde seine Stimme belegt, und seine Augen schimmerten.
Wir nickten, beeindruckt und andächtig. Der Falkner nickte kurz seiner Frau zu, und die reichte mir freundlich, aber kommentarlos einen Ersatz-Handschuh. Aufgeregt streifte ich ihn mir über. Dann drückte mir die Frau ein Kükenbein in den Handschuh. Der Falke beäugte das auch aufmerksam, blieb aber ganz gelassen auf dem Arm des Falkners sitzen. Erst als dieser sagte: „Ho!“ und ihn mit einem leichten Schubser aufsteigen ließ, schwang sich der Vogel auf – und war schon auf meinem Handschuh gelandet, so schnell, dass es mich verblüffte.
Er hackte und zerrte an dem Stück Fleisch, und dabei veränderte er seine Haltung auf meinem Handschuh, und auf einmal war da, wo seine Kralle hingriff, kein Handschuh mehr, sondern mein Arm, und wie eine spitze Nadel bohrte sich die Kralle in meine Haut. Der Falkner bemerkte das sehr wohl, lächelte aber abwartend. Ich biss die Zähne zusammen und blieb ganz ruhig. Bloß ja jetzt nicht den Falken durch eine unbedachte, plötzliche Bewegung verscheuchen! Er hatte mir ja gar nichts antun wollen, war nur einfach mit seinen Klauen vom grobledernen Handschuh abgerutscht und hatte versehentlich meine bloße Haut erwischt …
Das war meine Feuertaufe! Als der Falkner sah, wie ruhig und souverän ich blieb, nickte er anerkennend und beschloss, mir auch den Adler anzuvertrauen. „Aber erst nächstes Mal!“, erklärte er mir zu meinem Erstaunen. „Warum denn?“, fragte ich neugierig.
„Damit dein heutiges Erlebnis mit dem Falken nicht von der Begegnung mit dem Adler überlagert und die Erinnerung daran ausgelöscht wird!“, meinte er lachend. Ich nickte. Irgendwie konnte ich das verstehen. Der Falke war es wert, eine eigene Erinnerung zu sein, seinen eigenen Platz in der Galerie meines Gedächtnisses einzunehmen.
Und dann kam der große Augenblick mit dem Adler! Illona war genauso aufgeregt wie ich, legte aber keinen Wert darauf, mir nachzueifern und einen Riesengreifen auf ihren Arm flattern zu lassen, der fast sechs Kilo schwer war. Wenn er nur wuchtig die Flügel ausbreitete und schüttelte, dann spürte man schon den Luftzug. Auf einmal fand ich die Vorstellung von einem unsichtbaren Donnervogel, der mit seinen gigantischen Schwingen brausende Stürme erzeugte, gar nicht mehr so abwegig. Ich fand den Gedanken einfach äußerst passend.
Wieder erhielt ich einen Falkner-Handschuh zum Überziehen und einen Fleischköder.
„Es ist ein junger Weißkopf-Seeadler“, erklärte der Falkner freundlich, als er dessen Lederschnur löste. „Dreieinhalb Jahre alt. Am Hals sieht man schon, wie sich die ersten dunklen Federn weiß umfärben. Noch sieht er von Weitem fürs ungeübte Auge aus wie ein Stein- oder Goldadler, doch mit etwa vier bis fünf Jahren wird er in charakteristischer Weise ausgefärbt sein, mit seinem dann schneeweiß leuchtenden Haupt …“
Und er ließ den Adler fliegen. Der verschaffte sich erst ein wenig Bewegung, landete dann bei seinem Falkner auf dem Arm, und der trat lächelnd zu mir heran und ließ den Adler herüberflattern. Die Wucht seiner Landung drückte mir den Arm durch. Rasch stützte ich ihn mit dem anderen Arm ab. Der Falkner lächelte wortlos. Er hatte damit gerechnet. Er war es ja gewohnt.
Dann, endlich, hielt ich also den majestätischen Adler auf dem Arm. Es war atemberaubend – ein so stolzes und kühnes Tier auf dem Falkner-Handschuh sitzen zu haben! Dessen Fänge, groß wie Männerfäuste, schließen sich schraubstockartig um deinen Arm, und du spürst: Wärst du im Würgegriff seiner Klauen, so gäbe es kein Entrinnen. Sogar noch durch das Grobleder der Handschuhe spürst du den Druck der Krallen, und das stattliche Gewicht von fast sechs Kilo, da auf deinem Arm, drückt diesen bedenklich hinunter – mit aller Kraft hebst du deinen linken Arm wieder, so dass der Adler dort bequem sitzen kann wie auf einem Ast.
Und das Aufregendste: Dicht vor dir, nur eine Handbreit entfernt, blitzen seine schwefelgelben Augen, glasklar und unbeirrbar. Er blickt dich kurz an und dann an dir vorbei, scharf ist sein Blick – kein Wunder, dass die Natives darin Blitze schießen sehen und im Adler den kleinen Bruder des Donnervogels erblicken!
Zudem kann der Adler von allen Vögeln am höchsten fliegen: aus der Vogelperspektive hat er den Überblick über das Leben, buchstäblich, wie ihm die Welt da zu Füßen liegt, tief unter seinen Schwingen ausgebreitet wie eine bunte Morning-Star-Patchworkdecke, und seine Augen erspähen alles mühelos, noch auf mehrere Kilometer Entfernung. Ja, der Adler auf seinem kreisenden Flug, mit weiten Schwingen den Horizont umspannend, flog einst so hoch, dass ihm die Sonne das Schwanzgefieder ansengte … seitdem, so erzählt der Mythos, haben viele Adler einen schwarz gesäumten Schwanz. Vor allem auf Goldadler trifft das zu, die Weißkopf-Seeadler haben meist rein weiße Schwanzfedern, wie mir der Falkner erklärt. Doch alle Adler eint ihre Kraft und ausdauernde Flugkunst. Sie sind die mächtigen Herrscher des Luftraums und tragen die Gebete der Natives empor.
Irgendwie fühle ich mich gestärkt, als ich den Adler wieder zu seinem Falkner (nicht: zu seinem Herrn!) zurückkehren lasse, eine richtige Dusche prickelnder Energie hat er mir verpasst, die Luft um ihn herum ist wie elektrisch aufgeladen, ich spüre es, sogar durch den Lederhandschuh hindurch fließen die Energieströme. Illona ist stolz auf mich, dass ich so mutig war, doch ich bin einfach nur dankbar. Irgendwie, in meinem Innersten, fühle ich mich dem Adler verbunden. Er ist für mich der Bote aus einer anderen Welt.
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