Die Begegnung mit dem Adler hat auch nochmals Illonas Auseinandersetzung mit dem Tagebuch über meine Erinnerungen an frühere Leben aufgefrischt. Ich beginne – noch ohne recht zu ahnen, warum –, ihr vom Leben der Natives gestern und heute zu erzählen. Alles, was ich darüber in Büchern oder im Internet gelesen habe oder auch in Fernseh-Dokus gesehen. Und natürlich, was ich selber noch in meinem Kopf an Bildern gefunden habe, als verschütteter Tresor. Diese Bilder sind noch viel unmittelbarer als alles, was ich mir angelesen oder online recherchiert habe – denn sie sind mit meinen eigenen, persönlichen Gefühlen aufgeladen, von meiner jenseitigen Erinnerung imprägniert. Meine Begeisterung für dieses Thema, das mich so sehr berührt, springt auch auf meine Freundin über wie ein Funken und aufmerksam hört sie mir zu. Noch ahnen wir nicht, wie sich alles entwickeln wird, was da noch alles auf uns zukommt.
Bei Wikipedia erfuhr ich vieles, in das ich mich erst einmal hineindenken musste – doch meine Neugier war geweckt. Wo und wie lebten die Natives eigentlich heutzutage? Intuitiv klickte ich einen Artikel über eine der Reservationen an und erfuhr:
„Die Pine Ridge Reservation(Lakota-Sprache Oglala Oyanke) ist ein Indianerreservat im Südwesten des US-Bundesstaats South Dakota, an der Grenze zu Nebraska. Das Reservat erstreckt sich über eine Fläche von etwa 11.000 km 2. Der Großteil des von Oglala-Lakota bewohnten Reservats liegt im Oglala Lakota County und Jackson County. Hauptort ist Pine Ridge.“
Ich wusste: Dieses Land war zudem noch dünn besiedelt. Man schätzt die Bevölkerung auf etwa 30 - 40.000 Einwohner, weit verstreut in kleinen Siedlungen und entlegenen Weilern auf diesen 11.000 km 2. Zum Vergleich: Das Bundesland Schleswig-Holstein hat etwas über 15.000 km 2, dachte ich. Es klingt ja ganz groß, ganz großzügig – doch wenn man weiß, dass die weißen Regierungen den Natives das beste Land in den letzten 150 Jahren weggenommen hatten und ihnen nur kümmerliche Reste des einstigen Stammesterritoriums ließen, dann stellt sich das schon ganz anders dar. Und diese fortschreitende Landnahme erfolgte auch noch völkerrechtswidrig, durch Vertragsbrüche. Ich ahnte da noch nicht, wie vertraut mir schon bald die dortigen, mir bisher nichts sagenden Ortsnamen werden sollten …
Neugierig las ich weiter und erfuhr mit steigender Beklommenheit, dass die Arbeitslosenquote im Reservat bei 85 % läge und die Suizidrate viermal so hoch wie der Landesdurchschnitt sei. Viele Familien haben weder Strom noch ein Telefon. Mit einer Lebenserwartung von 47 Jahren für Männer und nur etwas mehr als 50 Jahren für Frauen sei die Lebenserwartung der Bewohner des Reservates eine der kürzesten aller Gruppen der westlichen Hemisphäre.
Wovon leben die da eigentlich?, fragte ich mich unwillkürlich. Jagd auf Kleinwild, Sammeln von Wildfrüchten, Wurzeln und Samen oder etwas Gartenbau. Na toll – einen Bio-Garten würde ich ja schon gern anlegen und meine eigenen Tomaten züchten – aber würde das denn überhaupt möglich sein in so einer kargen Gegend? Einem Land, das an die Halbwüste der Badlands grenzte …? Wie wäre es, wenn ich dort leben wollte oder müsste? In Gedanken sah ich mich schon widerwillig und notgedrungen auf wilde Truthähne schießen, um die magere Kost zu bereichern …
Besonders interessierte mich natürlich, was ich zur Geschichte der Reservation fand:
„Die Pine Ridge Reservation war ursprünglich ein Teil der Great Sioux Reservation“ – ach ja, hatte ich da nicht mal irgendwas gelesen, ich erinnerte mich an das geflügelte Wort, das Land von den Black Hills über den Powder River bis zu den Bighorn-Bergen solle uneingeschränktes Jagdgebiet der Natives bleiben, „solange das Gras wächst und die Flüsse fließen“.
So viel zum Thema unverbrüchliches Wort der Weißen. War es Präsident Johnson gewesen, der diese Zusage geprägt hatte? Hatte ich darüber bei Dee Brown, Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses, gelesen? Ich wusste es nicht mehr. Jedenfalls las ich weiter bei Wikipedia über dieses Reservat, „das durch den Vertrag von Fort Laramie von 1868 eingerichtet worden war und ursprünglich 240.000 km 2in South Dakota, Nebraska und Wyoming umfasste. 1876 verletzte die US-Regierung den Vertrag von 1868 und öffnete 31.000 km 2der Fläche des Reservats in den Black Hills für private Interessen.“
Jaja, es ging vor allem um Gold!, dachte ich wütend. 1874 war in den für die Lakota und anderen Natives heiligen Schwarzen Bergen Gold gefunden worden, dieser Fetisch weißer Materialisten … Was für die einen eine dreiste Vertragsverletzung war, erwies sich für die anderen als existenzbedrohend … Tja, was steht da noch alles? Hier:
„1889 wurde die übrige Fläche des Sioux-Reservats in sieben separate Reservate aufgeteilt: Cheyenne River Reservation, Crow Creek Indian Reservation, Lower Brulé Reservation, Rosebud Reservation, Sisseton Reservation, Yankton Reservation und Pine Ridge Reservation.“
Also ein einstmals zusammenhängendes Gebiet zerstückelt, zerfleddert, geplündert, die für die Weißen interessantesten Teile kurzerhand herausgenommen. So pickt man sich die Rosinen aus dem Kuchen! Doch das war noch nicht alles: „1911 wurde die Pine Ridge Reservation weiter verkleinert: Bennett County wurde als Folge des Allotment Act aus dem Reservat ausgegliedert, was jedoch bis heute nicht von den Oglala anerkannt wird. Gut die Hälfte der Bevölkerung von Bennett County sind heute Oglala, denen jedoch nur etwa ein Drittel des Landes gehört.“
Darüber hatte ich mal was gelesen: Die weiße Regierung hatte kurzerhand beschlossen, wer sein Land nicht bewirtschaften würde, der würde es an „fähigere“ Siedler, die das Land auch bestellen würden, abtreten müssen – dabei wollten die Lakota Großmutter Erde ja gar nicht mit dem Pflug aufreißen, sie durch Dünger zwingen, zur Unzeit Frucht zu bringen; sie wollten sie in Ruhe lassen, aus Respekt und Ehrfurcht vor der Schöpfung, so wie sie war – kein Wunder, dass sie da als „unzivilisierte, rückständige, faule Barbaren“ galten und man sich unter diesem Vorwand ihrer scheinbaren Ineffizienz deren Land immer weiter aneignete, parzellierte, unter sich aufteilte … „Indian Land for Sale“, einfach so – der Landhunger der Weißen war wie eine Heuschreckenplage.
Gut, es waren verzweifelte Auswanderer aus Europa, die durch Hunger, Kriege und Armut aus ihrer alten Heimat vertrieben worden waren – so hatte die Kartoffelpest in Irland weite Landesteile entvölkert –, doch waren die Natives ja ursprünglich sogar bereit gewesen, ihr ökologisches Wissen, wie man in ihrem Land überleben und nachhaltig Mais, Kürbis und Bohnen anbauen konnte, mit den Einwanderern zu teilen – das Thanksgiving-Fest in den USA zeugt noch heute davon. Nur die Gier der Weißen hatte diese anfangs friedliche Nachbarschaft zerstört … Und die eingewanderten Weißen erklärten meist kurzerhand, sie hätten ja das Land von ihrer Regierung zugewiesen bekommen oder dafür auch bezahlt, ohne zu hinterfragen, wer denn zuvor dort gelebt hatte und ob denn überhaupt alles bei diesem Besitzwechsel mit rechten Dingen zuging. Die Rechte der Natives wurden einfach ignoriert …
Da fühlte ich Fremdscham und mich nicht wohl in meiner Haut. Ich spürte: Unsere Generation hatte da etwas wiedergutzumachen …
Und so las ich denn weiter, bestürzt und beschämt, dass ein großes Gebiet 1942 als Bomenabwurf- und später als ArtillerieÜbungsgelände beschlagnahmt wurde.
125 Familien mussten das Gebiet verlassen, da es massiv bombardiert wurde. Darüber hatte ich mal in einem ganz anderen Zusammenhang etwas gelesen, nämlich in einem Buch ausgerechnet über die Dinosaurier. Dort in den Badlands liegen massenhaft fossile Riesenknochen von Sauriern, Urzeit-Rhinozerossen und anderen Tieren der Mega-Fauna herum – und diese auffälligen Landmarken dienten damals sogar bei Schießübungen als Zielscheiben! Nicht zu fassen!
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