Ab und zu begegnete sie Veronica auf der Strasse, fand sie übrigens durchaus anständig, eine bleichgesichtige Frau mit dunklen Augen und einer sanften Stimme. Sie wirkte verunsichert, einmal sagte sie: «Ich weiss nicht, was die Leute gegen mich haben.» Es war schon viel, dass sie im Laden und beim Bäcker bedient wurde. Eines Tages sah sie Mutter mit ihrem Erstgeborenen, sie näherte sich, neigte sich über das Wägelchen, um das Kind zu sehen. Mutter nahm es heraus und gab es ihr auf den Arm. Veronica war entzückt, drückte das Kind an sich, herzte es, gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Drei Frauen, die am Brunnen wuschen, hatten zugeschaut. Eine von ihnen traf abends meinen Vater und erzählte es ihm, aus Pflichtgefühl. Zu Hause gab es eine Szene. Ich stelle mir vor, wie er mit seiner Frau schimpft: Bist du eigentlich wahnsinnig? Wie kannst du so etwas tun – unser Kleines einer solchen Person in die Hände zu geben? Sie lacht ihn aus, ist zugleich empört: Mein Gott, was für ein Volk seid ihr hier! Man muss sich geradezu schämen, in einem solchen Dorf zu leben. Das ist noch Mittelalter, grotesker Aberglaube, und du selber bist ebenso abergläubisch wie die andern! Vater antwortet, das habe mit Aberglauben rein nichts zu tun, er wisse genau, dass mit der Person etwas nicht stimme – jedenfalls, wenn es alle sagen, müsse etwas daran sein. – Und du wärst wohl dafür, dass man die Frau verbrennt ...?
Vielleicht ihr erster Ehestreit, wegen einer armen Hexe. «Ich behaupte nicht, sie sei eine richtige Hexe», sagt er, «aber wenn nächstens mit dem Kleinen etwas passiert, dann wissen wir warum.»
Zum Glück passierte nichts. Einige Zeit danach bekam Vater eine andere Stelle, sie kehrten dorthin zurück, wo sie sich kennen gelernt hatten, das heisst nach Lavin, in Mutters Dorf, wo die Leute um einiges intelligenter und vernünftiger waren als die von Sent. Die von Sent, da bestand für Mutter kein Zweifel, hatten das Mittelalter noch nicht überwunden, lagen jedenfalls in ihrer Entwicklung mindestens ein Jahrhundert zurück.
Ich glaube nicht, dass sie der Frau je wieder begegnet ist. Später erfuhr sie, dass Veronica in Sent alles verkauft hatte und definitiv nach Italien gezogen war. Man erzählte auch, ihr Treuhänder habe lange suchen müssen, bis er für ihr Haus einen mutigen Käufer fand.
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