Oscar Peer - Hannes

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Hannes Monstein sitzt bei der städtischen Polizei und berichtet, dass er zu Hause zwei Tote vorgefunden hat: Franziska, seine Frau, und Paolo, seinen Stiefbruder. Er lebt sein gewohntes Leben weiter, aber in einem Schwebezustand, bis zu dem Tag, als er beim Anblick von Franziskas rotem Abendkleid, das an der Leine weht, zusammenbricht. Die Erinnerungen kommen hoch.
Der kultivierte, empfindsame, nicht ganz gerade gewachsene Hannes wäre gerne Pianist geworden, ist aber aus Mutlosigkeit ins Geschäft seines Vaters eingestiegen. Als Mittdreissiger wird er zu seinem eigenen Erstaunen Ehemann der umschwärmten Franziska, die, ganz sein Gegenteil, schnell Auto fährt und gar gern mal aus der Kurve getragen würde. Kurz nach der Hochzeitsreise beginnt jedoch die Entfremdung, und Hannes muss mit ansehen, wie sich sein «dunkler Engel» mehr und mehr zu seinem Stiefbruder Paolo hinbewegt. Die dunklen Seiten der Liebe reissen Hannes aus seinem scheuen Daseinin das verwirrende Labyrinth der Leidenschaft.

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Oscar Peer 19282013 geboren und im Unterengadin aufgewachsen gehört zu den - фото 1

Oscar Peer (1928–2013), geboren und im Unterengadin aufgewachsen, gehört zu den bedeutendsten rätoromanischen Autoren der Gegenwart. Nach dem Lehrerseminar in Chur begann er ein Studium der Romanistik, das er mit einer Dissertation zum surselvischen Schriftsteller Gian Fontana 1958 abschloss. Mit dem «Dicziunari rumantsch, ladin-tudais-ch» ist ein Basiswerk für die romanische Sprache entstanden. Viele Jahre unterrichtete er an Mittelschulen, daneben entstand kontinuierlich sein literarisches Werk.

Oscar Peer

Hannes

Roman

Limmat Verlag

Zürich

Sein Leben war nicht so verlaufen, wie er es sich in der Jugend geträumt hatte. So etwas wäre weiss Gott nichts Neues, doch er, Hauptperson dieses Berichts, war ein bisschen schief in die Welt geraten und litt am Gefühl, nicht ganz wie die andern zu sein. Die Begegnung mit einer ungewöhnlichen Frau sollte sein Leben gründlich verändern.

Eines Morgens gegen halb neun befand er sich auf dem städtischen Polizeiamt und berichtete von einem Vorfall, der sich letzter Nacht bei ihm zu Hause ereignet hatte. Er mochte gut dreissig sein, hatte ein interessantes, im Moment allerdings fahles Gesicht, dunkelbraunes Haar, da­zu leicht ungerade Schultern, das heisst die linke eine Idee höher als die rechte.

Ein Polizeibeamter stand hinter dem Tresen und glotz­te ihn an, in einem Nebenraum sassen noch zwei oder drei andere, deren Morgenplauderei bald verstummte. Einer von ihnen erschien in der Tür, näherte sich, liess sich alles nochmals erklären, notierte seine Personalien, während ein anderer telefonierte. Nachher musste er warten. Er setzte sich auf eine längliche Wandbank, nahm das Taschentuch heraus, um sich zu schnäu­zen. Irgendwo im Haus vernahm man ein Pochen, vermutlich wurde gebaut. Der Fussboden war ausgetreten, stellenweise uneben, die Mauern frisch gestrichen. Es roch nach Tünche und Zigarettenrauch.

Nach einer Weile ging die Tür auf, ein Polizist schaute herein und winkte ihm zu kommen. Draussen bestiegen sie ein Auto, fuhren von einem Innenhof auf die Strasse hinaus. Er sass vorne neben dem Lenker, auf dem Hintersitz noch zwei andere, beide in Uniform. Niemand redete. Es ging bergwärts, Strassen, Plätze, Quartiere seiner Stadt, die ihm jetzt, obwohl er sie längst kannte, merkwürdig verändert vorkamen. Dabei schien eine liebliche Aprilsonne. Hie und da ein Rotlicht, dann wieder grün, Menschen auf den Gehsteigen, Frauen mit Einkaufstasche, ein Strassenwischer, ein Briefträger … Es war wie der Morgen eines ganz gewöhnlichen Tages.

Vor seinem Haus hielt bereits ein anderer Wagen, aus dem zwei Männer in Zivil stiegen. Der ältere, ein gut gekleideter Fünfziger, stellte sich und seinen Begleiter vor: «Kommissar Grädel – mein Kollege Fausch.» Er blickte sich auf dem Platz um, fragte ihn, wem der rote BMW gehöre. Er antwortete, das sei der Wagen seiner Frau.

«Sie meinen der Frau, die jetzt …?»

«Ja.»

«Und Ihr Name?»

«Hannes Monstein.»

Im Garten ein leeres Schwimmbecken, eine Pergola, eine Bocciabahn, dazu etwas dürres Laub vom Vorjahr. Sie traten ins Haus, stiegen eine breite Steintreppe hinauf. Oben blieb er stehen, zeigte auf eine Tür und zog sich beiseite. Die Männer gingen hinein, blickten sich um, schauten dann alle nach einer bestimmten Seite. Ihre Gesichter. Das Wohnzimmer war noch halb dunkel, jemand zog die Vorhänge auseinander, dann wurde es heller. Er sah den Ledersessel, das Büchergestell, das umgeworfene Tischchen mit den Klaviernoten, ein Stück seines Steinways, Morgensonne auf dem farbigen Teppich.

Während er wartete, erschienen noch zwei andere, ein jüngerer und ein älterer mit Glatze; sie kamen die Treppe herauf, streiften ihn mit einem Blick und gingen ebenfalls hinein. Hannes war erstaunt, dass fast nur gemurmelt wurde, als dürfe man keinen Lärm machen. Der Kom­missar telefonierte, blickte sich im Zimmer um, kam dann zu ihm heraus:

«Jetzt müssen Sie mir nochmals erklären, wer die beiden Toten sind.»

Hannes sagte: «Meine Frau, Franziska Monstein – geborene Schnöll, und mein Stiefbruder Paolo Blum.»

«Ihr Stiefbruder?»

«Ja, der Sohn meiner Stiefmutter.»

Der Mann, relativ gross, stand da vor ihm, schaute ihm ruhig ins Gesicht. Er kondolierte, berührte seinen Arm, bat ihn, ins Zimmer zu kommen. Hannes zögerte: «Muss das sein?»

«Ja. Bitte, kommen Sie.»

Es hatte sich nichts verändert. Sie sassen oder lagen halbwegs auf dem Sofa; Paolo hielt Franziska mit einem Arm um die Schulter, wie um sie zu schützen. Franziskas Gesicht ruhig wie bei einer Schlafenden, dasjenige Paolos von einer Kugel verletzt, an der Stirn etwas verkrustetes Blut, der Mund leicht geöffnet; er blickte schräg zur Zimmerdecke hinauf, mit eingezogenem Nacken und wie grenzenlos erstaunt.

Wahrscheinlich war die Sache nicht nur Traum, auch wenn ihm alles traumartig vorkam, irreal bis zum Unsinn. Irreal auch diese Männer, die er nicht kannte, etwa der Glatzköpfige, der etwas in sein Köfferchen versorgte, während ein anderer eifrig drauflos fotografierte. Der jüngere Kriminalbeamte und ein Uniformierter standen bei der Balkontür und betrachteten eine kaputte Glasscheibe; man sah ein geschweiftes Loch mit sternartig zentrierten Rissen – vermutlich ein Kugeleinschlag. Hannes wollte das umgeworfene Notentischchen aufrichten, er bückte sich bereits über Chopin und Johannes Brahms, als ihm jemand energisch zurief: «Nichts berühren!»

Später sass er mit dem Hauptkommissar drüben in seinem Arbeitszimmer, wo er ihm, wie jeweils in Kriminalfilmen, allerlei Fragen beantworten musste: War die Haustür, waren einzelne Fenster offen; dazu Angehörige, Bekanntenkreis, Freunde, Feinde und mögliche Täter, dann Angaben zu seiner Frau. Er musste ihre Identitätskarte holen, ihren Reisepass. Der Beamte blätterte nur kurz darin und gab sie ihm zurück. Hierauf, wie zu erwar­ten, gleichsam mit einem Lächeln, seine Frage:

«Wo waren Sie gestern Abend, Herr Monstein?»

Auch Hannes musste lächeln. «Jedenfalls nicht hier», sagte er. Er war mit einer Reisegruppe in Griechenland gewesen, zehn Tage lang, dann wegen Kopfscherzen etwas früher als die andern heimgekommen, allein – zuerst mit dem Flugzeug bis Wien, dann letzte Nacht mit dem «Wienerwalzer» bis nach Hause. In Griechenland war es schon sommerlich heiss gewesen, daher vermutlich seine Kopfschmerzen. Der Kommissar hörte ihm zu, konnte sich Kopfschmerzen in Griechenland durchaus vorstellen. Aber warum der Zwischenhalt in Wien und warum der nächtliche «Wienerwalzer»?

Das war so: Während der Zwischenlandung in Wien hatte er in einer Zeitung gelesen, dass abends ein Klavierrecital stattfand, mit Andras Schiff, den er gern einmal öffentlich gehört hätte. Er hatte am Westbahnhof sein ­Ge­päck eingestellt, war per Taxi zum Grossen Musikvereinssaal gefahren, wo er mit viel Glück eine Eintrittskarte bekam. Klaviermusik, sagte er, sei schon immer seine Passion gewesen, eine Pianistenlaufbahn einst sein Jugendtraum.

Der Kommissar nickte. Er fragte: «Und dieser Pianist, was spielte er?»

«Zuerst Bach, die sechste Partita in e-Moll, dann eine etwas fade Sonate von Mozart, nach der Pause Schubert, die grosse Sonate in B.»

«Und dann sicher noch Zugaben?»

«Ich denke schon, nur musste ich da eben weg, um meinen Nachtzug nicht zu verpassen.»

«Hätten Sie dann nicht in Wien übernachten können und erst heute mit dem Flugzeug heimkommen? Sie hatten doch Ihr Flugticket?»

«Ja, aber dann hätte ich noch ein Hotelzimmer suchen müssen, und dazu hatte ich keine Lust. Dann lieber gleich weiter. Abgesehen davon fahre ich ganz gern in der Nacht.»

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