Offenbar hatte der Mann keine Eile, nach Hause zu gehen. Später am Küchenfenster stehend, sah Hannes, wie er unten im Garten umherspazierte, dann stehen blieb und eine Weile das Haus betrachtete.
Er wäre tatsächlich am liebsten wieder verreist, nach Griechenland oder sonst wohin, nur weg von hier. Statt dessen hatte er jetzt das Vergnügen, die Angehörigen zu benachrichtigen und ihnen zu erzählen, was sich bei ihm ereignet hatte. Um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, telefonierte er zuerst mit seiner Schwester Sonja, nachher in abgerissenen Worten mit dem Vater, legte dann gleich auf, ohne den armen Alten zu Atem kommen zu lassen.
Es dauerte dann eine ganze Weile, bis er im Elternhaus auftauchte. Sonja empfing ihn vor dem Eingang, ging dann mit ihm die Treppe hinauf, ohne zu reden. Oben betraten sie den Salon, wo Eltern, Schwiegereltern und Tanten auf ihn warteten. Er sah sie dort beisammen sitzen, bleich, starr wie auf einem Gruppenbild von Edward Munch. Noch leicht ausser Atem berichtete er so knapp wie möglich, was es zu berichten gab: seine vorzeitige Heimkehr aus Griechenland, die nächtliche Bahnfahrt, die Entdeckung der beiden Toten im Wohnzimmer, die Polizei und so weiter. Das alles musste er den Leuten erzählen, sah dabei ihre Betroffenheit. Es war entsetzlich, auch für ihn. Familienszenen hatte er ohnehin nie gemocht, es gab nichts Schlimmeres – Seufzer, Gejammer, die Fragen, wie so etwas möglich sei und wer es getan habe. Lilles Tränen um ihren Sohn, Francines Klagen um ihre Tochter – wobei ihr Weinen ab und zu in ein nervöses Lachen überzugehen schien; dazu die Hausmagd Annunziata, eine Seele von Mensch, die auf italienisch jammerte, Vaters geschlagenes Gesicht. Franziskas blonde Patin, obwohl gewesene Krankenschwester, konnte es auch nicht fassen, offenbar auch der Hund nicht, der draussen an der Tür kratzte und dann noch zu bellen begann. Sonja stand auf und liess ihn herein. Einmal klingelte das Telefon und niemand ging dran …
Sein grösster Wunsch: Bald wieder allein sein.
Unterdessen war es Mittag, Annunziata meldete, es sei angerichtet, fragte dann fast stimmlos, ob sie das Essen an die Wärme stellen solle. Da niemand antwortete, ging sie wieder davon. Santa Madre.
Lille stand entschlossen auf und erklärte, sie könne jetzt unmöglich essen; sie fragte Francine, ob sie mit ihr komme – sie wolle hinfahren, die zwei Toten sehen.
«Die kannst du jetzt nicht sehen», sagte Hannes.
«Wieso nicht?»
«Weil sie nicht mehr dort sind. Die werden jetzt noch gerichtsmedizinisch untersucht.»
Sie liess sich auf den Stuhl fallen, betrachtete ihn hilflos, ihre Tränen trocknend. Der Vater, dem seit seiner Streifung das Reden schwerfiel, murmelte vor sich hin. Nur Sonja, etwas abseits sitzend, sagte kein Wort. Harro, ihr schwarzer Neufundländer, lag jetzt auf dem Teppich, mit dem Kopf auf den Vorderpfoten.
Schliesslich ging man doch zu Tisch. Es folgte eine Mahlzeit ohne Worte. Lille konnte tatsächlich nicht essen; bald stand sie wieder auf und ging hinaus, Francine folgte ihr, dann sah man, wie sie sich draussen umarmten und gemeinsam weinten.
Als Hannes gegen zwei Uhr heimging, waren die Männer des Erkennungsdienstes noch immer da, bald im Haus, bald im Garten oder auf dem Balkon. Einmal erschien Fausch, hielt sich längere Zeit in Franziskas Zimmer auf. Hannes überlegte, ob er den Leuten etwas anbieten solle, doch vielleicht war es klüger, es zu unterlassen.
Lange sass er in seinem Arbeitszimmer, leerte die Schubladen, zerriss ein paar Briefe, blätterte in seinen Reisenotizen, dann in Franziskas Tagebuch, das er schon am Morgen an sich genommen hatte – ein dickes, in Leder gebundenes Heft, in das sie öfter gewisse Dinge schrieb.
Gegen Abend, endlich allein im Haus, telefonierte er mit einer in Wien lebenden Freundin, Caroline Z., Lehrerin für Musikpädagogik, die ihm bestätigen konnte, dass Andras Schiffs Recital stattgefunden hatte. Er erzählte ihr, was sich in seinem Haus zugetragen hatte, beschrieb ihr seine Seelenverfassung, vor allem seine Sorge, in den Schlamassel hineingezogen zu werden – wobei er natürlich schon drinsteckte. «Es ist haarsträubend», sagte er, «etwas wie eine Manipulation aus dem Unbekannten.» Hierauf fragte er sie, ob sie im Fall einer polizeilichen Einvernahme aussagen könnte, dass er am Vorabend mit ihr an diesem Recital gewesen sei. Caroline war verstummt, zögerte natürlich, was er durchaus verstehen konnte. Zuletzt, wenn auch ungern, sagte sie zu; sie mochte sich daran erinnern, dass er ihr vor einem knappen Jahr, als sie Spitalschulden bezahlen musste, zu Hilfe gekommen war, mit einer ordentlichen Summe, die sie ihm noch nicht zurückerstattet hatte. Aber, wie gesagt, er glaubte nicht, dass sie befragt würde; und wenn schon, dann würde sie einfach erklären, sie wären zusammen an diesem Konzert gewesen und er, Hannes, sei schon etwas früher weggegangen, um den Nachtzug nicht zu verpassen.
Die Informationssperre dauerte leider nicht lange. Schon nach drei Tagen war die Hölle los, mit Telefongeklingel, Expressbriefen und Kondolenzen. Dann wie erwartet ein Ansturm von Fotografen, Skandalreportern und Sensationsjägern. Morgens um acht sah er, wie sie unten mit ihrem Krimskrams aus dem Wagen stiegen. Die Haustür war geschlossen, und da sie trotz wiederholten Läutens nicht aufging, setzten sie sich auf das Bänkchen und warteten geduldig. Ab und zu ging er ans halb offene Küchenfenster und horchte. Unten ihre Stimmen, auch ein bisschen Musik, Zigarettenduft. Später sah er, wie sie von der Strasse herüber das Haus fotografierten. Es gelang ihm, sich auf der Gartenseite durch die Kellertür unbemerkt zu entfernen. Man musste sich buchstäblich aus dem eigenen Haus davonstehlen. Als er zwei Stunden später zurückkam, waren sie noch immer da. Vermutlich wurde man die Lümmel nicht so bald los, und so liess er sie herein. Sie schleppten ihren Plunder die Treppe herauf, richteten sich ein. Einer machte eifrig Aufnahmen, hätte ums Verrecken gern auch das Wohnzimmer und das Sofa fotografiert, auf dem die beiden, wie er sagte, abgeknallt worden waren. Als ihm Hannes erklärte, das Zimmer bleibe vorläufig geschlossen, meinte er: «Schade, gerade das wäre für uns sehr wichtig gewesen.» Zwei andere interviewten ihn, liessen dabei ein kleines Tonbandgerät laufen. Ihre Fragen:
«Wo waren Sie, als die Schüsse fielen? – Warum waren Sie nicht zu Hause? – Ahnten Sie, dass einmal etwas passieren würde? – Was empfanden Sie, als Sie die Toten sahen? – Wie ist Ihnen jetzt zu Mute? Wie lebt man in einem Haus, in dem gemordet worden ist? – War es Raubmord oder eine Abrechnung? – Wer kommt für Sie als Täter in Frage? – Wer war dieser Ernesto Plözzer? – Liebten Sie Ihre Frau?»
Mit den Gerichtsbeamten, vor denen er in den nächsten Tagen erscheinen musste, hatte er weniger Mühe. Es begann durch eine Anhörung vor dem Oberstaatsanwalt, was vermutlich zum normalen Verfahren gehörte. Die Leute taten ja nur ihre Pflicht. Der Mann, obwohl in gehobener Position, sah nicht anders aus als ein gewöhnlicher Bürger (wobei natürlich Gewöhnlichkeit täuschen kann): ein leicht korpulenter Sechziger mit spärlich behaartem Schädel, korrekt gekleidet, Brille mit Goldrand. Er war nicht unfreundlich, höchstens insofern nicht sehr angenehm, als er meistens einfach schwieg, sodass Hannes nicht wusste, ob er von sich aus reden oder besser schweigen solle. Im Grunde beschränkte sich die Begegnung auf ein paar belanglose Floskeln. Offenbar hatte der Mann keine Eile; er sass einfach da und schaute einem ins Gesicht, wie gesagt, nicht unfreundlich, höchstens mit einem Anflug von Ironie.
Ein Ermittlungsbeamter, der ihn zwei Tage später befragte, war gesprächiger und insofern menschlicher. Er hatte ein Glasauge, wirkte im Übrigen schlicht und offen, stellte seine Fragen ohne künstliche Pausen. Hannes antwortete, so gut er konnte, ein Gespräch von Mann zu Mann. Mühe bereitete ihm höchstens dieses Glasauge; er versuchte, es nicht zu beachten und blickte es doch immer wieder an.
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