Hannes zuckte die Achseln.
«Es heisst, Ihre Schwester sei sehr impulsiv. War sie eifersüchtig?»
«Kennen Sie Frauen, die nicht eifersüchtig sind?»
«Sie weichen meiner Frage aus, Herr Monstein. – Anders gefragt: Hat Ihre Schwester Sie geliebt?»
«Mich geliebt? Wie kommen Sie darauf?»
«Es wäre doch denkbar, nicht?»
«Natürlich wäre es denkbar, aber ich weiss nicht, worauf Sie mit Ihrer Frage hinauswollen.»
Der Kommissar insistierte nicht. Nachher war von Plözzer die Rede, von seinem Absturz, seinem vorangegangenen Streit mit Paolo. Der Kommissar wusste, dass es dabei um ein Stück Bauland bei Stäfa ging, das Paolo kaufen wollte und das ihm Plözzer wegschnappte.
«Was war dieser Plözzer für ein Typ?»
«Eine Art Schwergewicht. Kantonsrat, Immobilienhändler, steinreich, grosszügig. Zudem ein bisschen verrückt.»
«Inwiefern verrückt?»
«Er stellte gern die Welt auf den Kopf, hatte eine Vorliebe für Paradoxe. Exzentrisch wie er war, behauptete er zum Beispiel, ein Mord sei für ihn etwas völlig Normales, jedenfalls nicht eine Frage der Moral, sondern des klaren Verstandes und des Selbstwertgefühls.»
Diese Aussage musste Hannes wiederholen. Während Grädel notierte, klopfte jemand an die Tür; er ging hinaus, unterhielt sich mit jemandem, kam wieder zurück, setzte sich, blätterte in seinem Dossier. Irgendwo tauchten ein paar Fotos auf – Hannes erkannte flüchtig sein Haus, sein Wohnzimmer und das Sofa. Der Mann schien etwas zu suchen. Nachher, halb abwesend, zeichnete er wieder Regenstriche. Ohne aufzuschauen, fragte er:
«Und Sie, was denken Sie über diesen Mord?»
Hannes schüttelte den Kopf. Er wusste es nicht.
«Stimmt es, dass Sie ab und zu unberechenbare Reaktionen haben?»
«Wer ist schon berechenbar? Ich bin auch nur ein Mensch.»
«Es heisst, dass Sie manchmal plötzliche Wutanfälle haben.» Hannes schwieg, er fuhr fort: «Da gab es zum Beispiel in Ihrer Jugend eine Auseinandersetzung mit ihrem Stiefbruder Paolo, an einem Flussufer, wo Sie ihn beinahe gesteinigt hätten. Offenbar hatten Sie ihn so unglücklich getroffen, dass er bewusstlos am Boden lag. Könnten Sie mir das etwas genauer erzählen?»
«Nein, ich mag nicht. Wozu die Vergangenheit aufwühlen?»
«Es ist sicher besser, darüber zu reden, als es zu verdrängen.»
«Ich verdränge es ja gar nicht.»
«Dann sagen Sie mir doch, wie es war.»
«Einfach ein Streit. Er hatte mich ins Wasser gestossen, worauf ich einen Stein nach ihm warf; nachher lag er am Boden, und ich wusste nicht, was tun.»
«Hatten Sie Angst?»
«Natürlich.»
Der Kommissar schwieg, ihm ins Gesicht schauend. Die merkwürdige Stille dieses Mannes. Hannes fragte ihn:
«Sagen Sie, Herr Grädel, ist dies eigentlich ein Verhör?»
«Aber nein, wer redet hier von Verhör. Ich versuche nur herauszufinden, wer Sie sind. Verstehen Sie? Sie interessieren mich, und deshalb unterhalte ich mich mit Ihnen.»
«Privat oder dienstlich?»
«Ach, wissen Sie, das geht bei mir immer ein bisschen ineinander. Ich kann den Beruf nie ganz von mir abstreifen.»
«Sodass jeder, dem Sie begegnen, im Grunde ein Krimineller sein könnte?»
«Nein, das sehen Sie falsch. Aber wenn man es ein Leben lang mit Menschen zu tun hat, entsteht mit der Zeit eine gewisse Neugier, über den Beruf hinaus.»
Es dämmerte bereits, und im Halbdunkel schien sein Gesicht leicht verändert. Endlich stand er auf, sie verliessen das Zimmer. Draussen wieder eine Treppe, ein Gang und nochmals eine Treppe. Grädel begleitete ihn bis zum Ausgang, wo sie sich verabschiedeten. Als Hannes nach ein paar Schritten flüchtig zurückschaute, stand der Mann immer noch in der Tür, winkte kurz mit der Hand.
Auf dem Heimweg erinnerte er sich an jenen Vorfall. Sie waren damals noch halbwüchsig, dreizehn- und vierzehnjährig, sie weilten in Falön in den Ferien, spielten eines Tages am Flussufer. Er zeigte Paolo, wie man flache Steine so über das Wasser werfen konnte, dass sie an den Wellen abprallten und weiterhüpften. Einmal geschah Folgendes: Er stand auf einem abgeschliffenen Steinbrocken, als ihm Paolo plötzlich von hinten einen wuchtigen Stoss versetzte. Er stürzte ins Wasser, wurde ein paar Meter fortgeschwemmt, konnte sich aber wieder aufrichten und ans Ufer steigen. Passiert war nichts, ausser dass er platschnass war, während Paolo laut lachte. Er war masslos wütend, begann Steine nach ihm zu werfen; einer traf ihn am Kopf, Paolo fiel hin und lag dann reglos am Boden. In einer plötzlichen Verwirrung wusste er nicht mehr, was passiert sei, er sah nur Sandbänke und eilende Wellen, während das Rauschen des Flusses immer lauter wurde. Zum Glück erschien jemand, man brachte den Verletzten zu einem Arzt, wo er sich langsam erholte. Eine Zeit lang trug er einen Verband um den Kopf, hatte oft Schwindelanfälle, bis es ihm allmählich besser ging und er das Geschehene wieder vergas.
Hannes selber konnte nicht vergessen. Die Erinnerung verfolgte ihn wie ein Schatten.
Das Begräbnis hätte im engeren Familienkreis stattfinden sollen, doch erschienen dann mehr Leute, als einem lieb war. Die Menschen langweilen sich und sind froh, wenn einmal etwas passiert. Während der Geistliche vor den zwei Gräbern redete, zählte er unauffällig die Anwesenden. Im ganzen etwa siebzig Personen. Irgendwo sein Chef Dr. Rehberg, der Dichter Isidor Turell, Kunstmaler Möcklin und Frau, dazu Charles, sein Mitarbeiter der FAVILLA. Ganz vorne die Leidtragenden – Lille, die Schwiegereltern, Franziskas blonde Patin, in der Mitte, am Arm gestützt, sein Vater. Er selber stand mit Sonja etwas erhöht auf der Seite gegenüber. Vor ihnen zwei Erdhaufen, zerschnittene Wurzeln, Blumen und Totenkränze. Sein Freund Leon war nicht da. Hingegen sah er irgendwo den pensionierten Kommissar Locher. Sein verwittertes Bauerngesicht. Er stand etwas am Rande, Hut in den Händen, Gebete schienen nicht seine Stärke; einmal strich er sich mit der Hand über den borstigen Schädel und blinzelte am Kirchturm in die Höhe.
«Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn …» Jemand schaufelte Erde in beide Gräber, Frauen warfen Blumen hinein, auch Sonja. Das Stillstehen ermüdete. Übrigens war es zu warm für die Jahreszeit – Mitte April, das war früher noch Vorfrühling, während heutzutage die Hitze immer überfallartiger hereinbrach. Wahrscheinlich herrschte Föhn. Man sah bewegtes Gezweig, junges Laub, irgendwo hinter der Mauer blühte ein Kirschbaum. Der Himmel fast dunkelblau.
Er war froh, als man nach der Grabzeremonie den kühlen Kirchenraum betreten konnte. Drinnen tönte Orgelmusik. Als sich die Leute gesetzt hatten, folgte eine Stille. Dann wieder die Stimme des Geistlichen, wieder ein Gebet, hierauf die Trauerrede, von der er mangels Konzentration fast nichts mitbekam. Er realisierte höchstens, dass einmal mehr Paulus das passende Stichwort lieferte. Stichworte, dachte er, das war immer etwas vom Wichtigsten. Stichworte waren auch Paolos Stärke gewesen, mit ihnen hatte er oft lebhafte Diskussionen ausgelöst. Bei Paolo ging es überhaupt immer lebhaft zu. Seltsam zu denken, dass er und Franziska jetzt für immer verstummt waren. Während der Pfarrer auf seiner Kanzel redete, dachte er an die beiden Gräber da draussen, beide dicht nebeneinander, sodass sie, falls es eine Totensprache gab, fast miteinander flüstern konnten. Die gute Lille war sogar auf den Gedanken gekommen, sie im selben Grab beizusetzen – ein Vorschlag, den der Vater entrüstet zurückgewiesen hatte; als wäre der Skandal nicht schon gross genug gewesen!
Hannes betrachtete den frisch restaurierten Kirchenraum. An der Mauer ein paar bleiche Fresken, in der Mitte ein segnender Christus, im Chor drei sonnendurchtränkte Farbfenster. Einmal, während der Pfarrer redete, kam ihm seine verstorbene Mutter in den Sinn, und er fragte sich, wie es für sie gewesen wäre, wenn sie Franziska gekannt hätte.
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