Ich denke an jene Reisen mit ihr, an den Knirps, den sie an der Hand mitzog, frage mich, ob das schon die gleiche Person war wie diejenige, die sich jetzt zu erinnern versucht.
Sie nahm mich wie gesagt immer mit. Erstens war niemand zu Hause, um mich zu hüten, zweitens gab ihr meine Begleitung vielleicht eine gewisse Sicherheit. Sie war zwar eine starke Persönlichkeit, doch kann ich mir vorstellen, dass bei längeren Reisen eine leichte Weltbangigkeit mitging und dass sie dann froh war, sich an mir festhalten zu können. Chur zum Beispiel war schon sehr weit weg. Die Reise nach Chur war schon deshalb aufregend, weil es nach Bever, wo man umsteigen musste, durch einen langen Tunnel ging. Wenn man jenseits herauskam, schien die Welt irgendwie verändert. Zuerst noch Wald und Felsen, doch bald gelangte man in sanftere Täler hinab, die im Gegensatz zum noch winterlichen Engadin schon grün schimmerten. Man sah ganze Haine weiss blühender Obstbäume, die meine Mutter zu Freudenausrufen bewegten. Unter einer hallenden Metallbrücke strömten zwei Flüsse zusammen, um dann gemeinsam weiter zu ziehen. Merkwürdig schien mir, dass wir, nachdem es zuerst immer westwärts gegangen war, auf einmal wieder nach Osten fuhren, und ich fürchtete, wir könnten, trotz der veränderten Gegend, wie durch Zauberei plötzlich wieder zu Hause ankommen.
In Chur wohnten die Grosseltern väterlicherseits, zudem ein Onkel und eine Tante. Bei Grossmutter Berta kam einem ein bestimmter Hausgeruch entgegen, den ich jedesmal wieder erkannte – unten duftete es nach Waschküche, zwei Treppen weiter oben nach Gasherd. Wir betraten jeweils die Wohnung ohne zu läuten, weil nona schwerhörig war und das Läuten gar nicht gehört hätte. Hinter dem Glas der Küchentüre sah man ihren Schatten. Mutter klopfte, öffnete dann vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken. Wenn man sich mit ihr unterhielt, musste man sehr laut reden. Ich fand es merkwürdig, dass sie dann selber ebenfalls laut redete, als wären alle taub. Wenn man sass, bediente sie sich eines hornartigen Geräts, das sie sich ans Ohr hielt und in dessen muschelartige Öffnung man hineinreden musste.
Im Gegensatz zu allen andern Verwandten war sie blond und bleich, im übrigen auch die einzige Katholikin in der Familie. Zu Hause unterhielt man sich oft darüber, dass sie von Zeit zu Zeit Erscheinungen hatte, fragte sich, ob das mit ihrer Schwerhörigkeit zusammenhängen könnte. Ihr Mann, Grossvater Andri, glaubte nicht daran, weil sie nämlich schon früher Visionen gehabt hatte; er war überzeugt, die Sache habe etwas mit ihrem katholischen Glauben und ihrer Religiosität zu tun – sie denke zu viel ans Jenseits und an die Toten, und dann kämen sie eben. Hie und da, etwa bei Tisch, konnte es geschehen, dass sie plötzlich erschrak, das Besteck fallen liess, verwirrt ins Leere blickte und hastig flüsterte: «Schau da! Schau da! Habt ihr gesehn?» Das Ganze dauerte nur ein paar Sekunden, dann war der Spuk vorbei. Nachher schien sie noch blasser als sonst. Sie hatte jemanden gesehen, der zur Türe hereinkam, etwas im Küchenschrank suchte und dann durch die Mauer verschwand. Sie erkannte die Person nie genau, manchmal war diese wie durchsichtig, doch sie war überzeugt, es handle sich um ihre Tochter Chatrina, die mit dreiundzwanzig Jahren gestorben war. «Mein böses Gewissen», sagte sie. Sie dachte an damals, als Chatrina mit Lungentuberkulose darniederlag und sie selber ihre Tochter, aus Angst vor Ansteckung, durch jemand andern pflegen liess und nicht einmal in der Nacht ihres Todes bei ihr blieb – aus purer Feigheit. Dafür hatte sie jetzt ihre Heimsuchungen, die sie, wie sie behauptete, manchmal schon eine Weile vorher kommen spürte. Wenn sie dann plötzlich aufhorchte und zur Türe starrte, fragte Grossvater ganz ruhig, die Suppe löffelnd: «Kommt sie wieder?»
Grossvater Andri war ein grosser, starker Mann, damals in Chur als Bauarbeiter tätig. Bei ihm sah ich übrigens zum ersten Mal im Leben ein Grammofon. Er führte mich in die Stube, holte ein Köfferchen herbei, öffnete es, nahm eine schwarz schimmernde Platte mit feinen Rillen aus einer Papierhülle und legte sie auf den beweglichen Teller des Apparates, drehte an einer Kurbel, bewegte einen mit einer dünnen Nadel versehenen Metallarm, senkte ihn vorsichtig auf die Platte herab. Eine Weile vernahm man ein kratzendes Geräusch, dann plötzlich Ländlermusik – jene Musik, die ich von zu Hause kannte, wenn Vater mit den Müllers spielte – doch hier tönte sie aus diesem kleinen Kasten, was für mich an Zauberei grenzte. Grossvater schaute mir ernst nickend ins Gesicht, wie jemand, der tatsächlich zaubern kann. «Siehst du?», sagte er. «Hörst du die Klarinette und die Bassgeige? Und die Handorgel, das ist dein Vater! Die sind jetzt alle da drin!» Ich staunte, konnte mir nicht erklären, wie die Männer in diesem Köfferchen Platz hatten und noch so gutgelaunt aufspielten. Nach einer Weile jedoch, während sich die Platte drehte und es drauflos ländlerte, akzeptierte ich das Unglaubliche als etwas Naturgegebenes. Zuletzt schien alles möglich. Als die Musik zu Ende war und es wieder kratzte, legte Grossvater die Platte auf die andere Seite, dann kam ein neues Stück, und diesmal glaubte ich, meinen Vater noch viel deutlicher herauszuhören.
Am nächsten Tag hätte ich die Musik gern nochmals gehört, doch mittags schien Grossvater schlechtgelaunt, und abends warteten wir vergebens mit dem Nachtessen auf ihn. Grossmutter Berta schien besorgt. Da er nicht kam, assen wir allein. Als später eine meiner Cousinen (sie war ein Jahr älter als ich) auftauchte, schickte man sie zu einem nahe gelegenen Wirtshaus, um nachzuschauen, ob der «Neni» dort sei. Sie eilte davon, kam bald wieder wie ein Sturmwind zur Türe herein und meldete ausser Atem, er sei tatsächlich dort, man höre ihn bis auf die Strasse heraus. Nona Berta forderte sie auf, so rasch wie möglich ihre Mutter zu holen, die Cousine rannte wieder davon, etwas später erschienen sie beide. Es wurde diskutiert, was zu tun sei. Meine Mutter, tapfer wie sie war, anerbot sich, in jene Beiz zu gehen und den Grossvater nach Hause zu bringen, doch wurde ihr davon dringend abgeraten. Am besten, meinte die Tante, wir würden so rasch wie möglich unsere Sachen zusammenpacken, mit ihr kommen und bei ihr übernachten. Das geschah denn auch, wir verabschiedeten uns von der Grossmutter, wechselten das Quartier, wanderten mit unserem Gepäck durch heiter beleuchtete Strassen, kamen auch an jener berüchtigten Kneipe vorbei, aus der es tatsächlich laut tönte. Bald erreichten wir das Haus an der Paradiesgasse, in welchem die Tante wohnte. Es gab noch etwas Obst und Schokolade, dann steckte man mich ins Bett, und zwar zu meiner Cousine, die sich über die Ereignisse des Abends geradezu riesig freute und vor Vergnügen mit den Beinen strampelte.
Als ich älter war, erfuhr ich übrigens, dass meine Mutter damals, während ich schlief, doch noch jenes Wirtshaus aufgesucht und Grossvater herausgeholt hatte. Sie brachte ihn nach Hause und blieb dort, bis er den von ihr verordneten schwarzen Kaffee getrunken hatte und dann zu Bett ging.
Unsere längste Reise führte uns ins Ausland, das heisst ins Liechtensteinische. Ich wusste nicht, was «Ausland» bedeutete, merkte nur, dass die Fahrt länger dauerte als sonst. Verwandte hatten wir dort keine, doch in Liechtenstein waren die Zahnärzte billiger als bei uns. Mutter musste ihre Zähne behandeln lassen, und da sie als Frau eines Bähnlers eine Gratisfahrkarte besass, konnte sie durch die lange Reise etliche Franken einsparen.
Den ersten Zug hatten wir diesmal nicht verpasst. Ich vermute, dass wir gegen Mittag in Vaduz ankamen. In einer Konditorei kauften wir etwas Patisserie, dann wanderten wir aufs Feld hinaus, setzten uns neben einem Zaun ins Gras und assen zu Mittag. Vielleicht war es Frühling, ich glaube mich an Löwenzahn zu erinnern, an weidende Schafe, auf einem Felsen ein imposantes Schloss, vom Dorf herüber Glockengeläute.
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