Mittags blieben die Schüler in Zernez. Die Kochs und meine zwei älteren Brüder assen bei Bekannten oder Verwandten; die Müllers, Kinder der grössten der drei Familien, nahmen ihre Mahlzeit am Bahnhof ein, und zwar im Güterschuppen. Ihre Mutter übergab dem Zugsschaffner einen Korb mit dem Essen, in Zernez nahm ihn der Stationsvorstand in Empfang und behielt ihn in seinem warmen Büro, bis sich mittags die Schar meldete. Der geheizte Warteraum kam als Esslokal leider nicht in Frage, und so blieb ihnen nur der kalte Schuppen.
Hier zuoberst am Hang das Materialmagazin, ein kleiner Holzbau mit rostigem Blechdach, in dem die Eltern damals den Fremden übernachten liessen. Eines Abends spät klopfte jemand ans Fenster, sie gingen hinaus, vor der Türe stand ein zerlumpter Mann, braunhäutig und kraushaarig, mit fremdländischem Gesicht. Er sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstanden. Nach einigem Zögern liessen sie ihn hereinkommen, Mutter tischte etwas auf, wärmte einen Rest Kaffee. Er schien ausgehungert. Er hatte dicke Lippen, dunkelbraune, fiebrig schimmernde Augen. Vater zeigte ihm, wie man Butter aufs Brot streicht. Er nahm das Butterbrot und ass, sagte dann etwas, das vielleicht «danke» bedeutete. Natürlich keine Rede von Deutsch oder Romanisch, er schüttelte nur den Kopf. Vater versuchte es mit den Überresten seines Sekundarschulfranzösisch, worauf der Fremde immerhin lächelte, als hätte er so etwas auch schon gehört. Seine eigene Sprache klang merkwürdig rau, er versuchte etwas zu erklären, zeichnete dabei mit dem Finger auf den Tisch. Man verstand nur ein paar Namen – Casablanca, Tunis, Italy, Triest –, vielleicht Wegzeichen seiner Reise. Dann fügte er hinzu: «Deserteur – Francia.»
Sie beschlossen, ihn oben im Magazin schlafen zu lassen. Mama hatte zuerst an die Couch in der Stube gedacht, doch Vater wollte nicht – man konnte nie wissen. Da der Fremde nebst einem Halstuch nur Lumpen und zerschlissene Sandalen trug, holte man ihm Hosen und Schuhe von Vater. Die Hosen waren ein bisschen zu kurz, worüber er lachen musste. Er hatte blendende Zähne. Es waren Vaters ehemalige Militärhosen, auf die er verzichten konnte, doch die Schuhe wollte er unbedingt zurückhaben, sie waren noch relativ neu, Bergschuhe mit Gummisohlen; man gab sie dem Mann nur für heute, weil es draussen regnete. Die Eltern versuchten, es ihm mit Zeichen verständlich zu machen. Er nickte. Vater führte ihn die Böschung hinauf, wahrscheinlich hatte er die Karbidlampe dabei, die er jeweils in den Tunneln brauchte, dazu zwei Wolldecken. Im Magazin zeigte er ihm eine Ecke, wo man bequem schlafen konnte. Als er herunterkam, hatte Mutter einen alten Rucksack mit Proviant gefüllt, so dass er nochmals hinauf musste.
Später machte er sich Sorgen um seine Schuhe, bereute es, ihm nicht die ganz alten gegeben zu haben. Er sprach noch im Bett darüber, wäre vielleicht noch einmal hinaufgegangen, doch Mutter meinte, jetzt könne er ihn nicht mehr stören, der arme Teufel sei sicher todmüde.
Am nächsten Morgen früh, als Vater vor seiner Linienkontrolle die Magazintüre öffnete und hineinschaute, war der Fremde nicht mehr da. Vielleicht Angst vor der Polizei. Die beiden Wolldecken lagen sauber zusammengelegt auf einer Kiste, der Rucksack und die Schuhe waren weg.
Wie sich später herausstellte, war der Mann, als morgens der erste Zug talaufwärts fuhr, unter einen Waggon gekrochen und so, zwischen Achsen und Eisenstangen bis ins Oberengadin gelangt, dann irgendwo heruntergefallen und neben dem Geleise liegen geblieben. Man brachte ihn ins Spital von Samaden. Vater musste hin, um ihn zu identifizieren. Jemand führte ihn in ein Zimmer, wo der Verletzte in einem Bett lag, an Kopf und Armen verbunden. Er erkannte ihn sogleich – sein braunes Gesicht, das gekräuselte Haar, die Augen mit dem Wüstenglanz. Ein Arzt war anwesend, eine Krankenschwester, dazu zwei Polizisten. Als der Fremde etwas murmelte, fragte man Vater, was er gesagt habe. Er wusste es so wenig wie sie, wahrscheinlich sei es Arabisch. Wieso Arabisch? Weil er gestern etwas von Tunis und Casablanca gesagt habe, das sei doch dort unten.
Die Leute fragten sich, ob in der Gegend jemand zu finden wäre, der Arabisch konnte, vielleicht ein St. Moritzer Feriengast. Einer der Polizisten machte ununterbrochen Notizen. Vater blickte sich um. Der Rucksack war nirgends zu sehen, der lag vielleicht noch irgendwo auf der Bahnlinie; doch auf einer Stuhllehne sah er seine Militärhosen, unter dem Stuhl seine Bergschuhe mit den Gummisohlen. Er war nahe daran, den Leuten zu erklären, dass die eigentlich ihm gehörten und dass er sie mitnehmen möchte – schliesslich hatte er sie dem Mann nicht geschenkt; doch er konnte sich nicht entschliessen, wollte vielleicht nicht als mieser Kerl erscheinen, der einem Unglücklichen etwas wegnimmt, und so verabschiedete er sich und ging davon.
Sonst waren Besucher selten. Gelegentlich eine italienische Hausiererin, die sogar in Carolina Halt machte und die uns, wenn niemand zu Hause war, die frischen Eier aus dem Hühnerschlag klaute. Hie und da der Bahnmeister Riffel, Verantwortlicher für den Liniendienst, ein grosser, hagerer und grundehrlicher Mann, der nur vorbeikam, um mit meiner Mutter zu plaudern. Dass er deshalb kam, wusste ich damals noch nicht; ich sah nur, wie er in seiner Bähnleruniform am Tisch sass und Kaffee trank, während Mutter Wäsche bügelte.
Dann ab und zu der Jagdaufseher, um zu schauen, ob nicht gewildert wurde. Wild gab es in Hülle und Fülle, vor allem Rehe und Hirsche, die nachts in unsere Gärten sprangen, den Salat frassen und das je nachdem mit dem Leben zahlten. Jemand fällte verbotenerweise die schönsten Bäume, bis ihn der Förster Renold heimlich fotografierte, gerade während der Baum fiel; später kam er und hielt dem Frevler lächelnd das Foto unter die Nase, zeigte ihn aber nicht an. Man sagte, dass solche Spielereien zu ihm passten, weil er überhaupt gerne spielte – mit Foto- und Filmapparaten, mit Geld, mit den Leuten, vor allem auch mit Frauen. Er spielte auch glänzend Theater, das heisst in Zernez, wo er zu Hause war und wo ein reges Dorfleben herrschte. Carolina war leider kein Dorf, hier gab es nur den Wald, den Viadukt, am Himmel kreisende Raubvögel, meines Vaters Handharmonika, meine zwei oder drei Gespielen und die vorbeifahrenden Züge.
Wenn sie von Westen kamen, wo die Bahnlinie schnurgerade verlief, schienen sie fast stillzustehen, waren dann plötzlich da, hielten an oder fuhren vorbei. Auf der unteren Seite, jenseits der Schlucht, drangen sie aus einer Felsschneise und kamen über den Viadukt daher. Das Nahen der Züge vernahm man auch im Haus. Ich rannte ins Freie, sah oben die Wagen vorbeigleiten. Es kam vor, dass mir jemand zuwinkte. Ein Fräulein mit blonden Haaren und rotem Béret warf mir einmal eine Schokolade herunter. Tagelang wartete ich vergebens, dass die hübsche Person wieder erscheinen würde.
Geheimnisvoll, fast unheimlich, war der Lokführer, der vorne in der Maschine stand und steif wie ein Zinnsoldat geradeaus schaute. Manchmal, wie gesagt, hielt der Zug gar nicht, eilte dahin mit einem langgezogenen Pfeifen – es widerhallte durch die Gegend wie der Schrei eines geplagten Geistes. Ich stellte mir dann vor, dieser Geist wäre der Lokführer selber, ein zum Dahinrasen Verdammter, der nie zur Ruhe kam. Oder vielleicht ein Zauberer, Bewohner dieser dunkelroten Lokomotive. Mich beeindruckte vor allem die Vorderseite der Maschine, weil sie mit ihren zwei Fenstern oben, einer runden Lampe dazwischen und zwei auseinanderliegenden Lampen weiter unten genau einem menschlichen Gesicht ähnelte.
Einmal, als der Zug hielt und die Lokomotive gerade in meiner Nähe zum Stehen kam, liess der Mann (vermutlich immer derselbe) das Seitenfenster herunter und schaute heraus. Sein Gesicht kam mir ungewöhnlich vor, auch die Art, wie er in diesem schmalen Fenster eingeklemmt schien, den Kopf senkte und zu mir herabschaute, wobei ihm eine Haarsträhne in die Stirn fiel. Er hatte sehr dunkle Augen, und als er mich fragte, wie ich heisse, brachte ich kaum mein «Kini» aus der Kehle. Der Zauberer!, dachte ich, wahrscheinlich war er das ... Als der Zug langsam weiterfuhr, schaute er nach wie vor zu mir herab, schaute zurück statt nach vorn, lächelte und winkte leicht mit der Hand.
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