– Und der andere soll es wagen, uns wieder zu stören!
Fünf oder sechs zogen es vor heimzugehen, der Rest der Gesellschaft landete im Zimmer des Mädchens.
Einen Augenblick später betrat Pfarrer Rinati die Kirche. Das ewige Licht brannte wie immer, und im Chor lagen blaue Schatten. Er blieb im Schiff stehen, neben dem Beichtstuhl, denn er fühlte sich in dieser Nacht nicht würdig, vor Gott zu treten. Er dachte an den Tod. Wann würde seine Stunde kommen? Oh, befreit sein von diesem verfluchten Körper, dem Zwang der Sinne nicht mehr ausgeliefert! Aber der Tod … Nur schon ihn zu wünschen war Sünde.
Da vernahm er ein Geräusch. Im Mittelgang näherte sich ein Kind mit einer Laterne. Ohne Zögern stieg es zum Querschiff hinauf, vergass das Knie zu beugen und ging geradewegs auf den kleinen Josephsaltar zu, auf dem hinter Glas eine Weihnachtskrippe stand. Der Knabe hielt zuerst ehrfürchtig Abstand, dann kletterte er die beiden Stufen zum Altar hinauf, schob sein Gesicht ganz nahe an die Krippe und stellte die Laterne daneben. Er war vielleicht neun Jahre alt. Die langen Haare fielen ihm in den Nacken und über die niedrige Stirn, und der leicht einwärts gerichtete Blick der dunklen Augen gab ihm etwas Verstörtes.
Der Priester sah ihm erstaunt zu. Der Bub ahnte nichts von seiner Gegenwart und liess seiner Bewunderung und Neugier freien Lauf. Er drückte die Nase an der Glaswand platt und betrachtete die Wachspuppen, eine nach der andern, mit grösser Sorgfalt. Keine Einzelheit, nicht eine Kleiderfalte entging seinem andächtigen Blick. Wie wunderbar das war! Nichts fehlte. Zuerst das blasse Jesuskind, in seine Windeln eingewickelt wie ein verletzter Finger in den Verband; seine Krippe glich nicht den Futterkrippen, die man in den Dorfställen brauchte, sie war zierlich und kompliziert gebaut und ruhte auf kleinen Säulen. Neben dem Kind die Heilige Jungfrau in einem steifen Gewand, über das der hundertjährige Staub einen geheimnisvollen Flaum gelegt hatte. Sie wahrte die Würde einer grossen Dame, auch wenn ihr der Glorienschein aus Silberpapier etwas heruntergerutscht war. Sankt Joseph und die Hirten fesselten ihn weniger, denn sie waren nicht so verschieden von den Leuten, denen er täglich begegnete. Seine Vorliebe galt den Heiligen Drei Königen in ihren prächtigen Mänteln, die sich gegen unten weiteten wie Glocken, und ihren Kronen aus Goldband, auf die zur Zierde Glasperlen aufgenäht waren. Der eine lag auf den Knien und hielt ein Kästchen in den Händen, der zweite musste sein Geschenk unterwegs verloren haben, und der dritte stand versonnen abseits und hatte ein merkwürdiges Tier bei sich. Das ist kein Maultier, kein Esel, kein Pferd …, sagte sich das Kind verwundert. Es war auch kein Kamel, was es eigentlich sein sollte. Auf den Boden waren winzige Kieselsteinchen aufgeklebt, wie man sie überall findet, aber hier besassen sie den Reiz von Edelsteinen.
Der Kleine wurde nicht müde, alles zu bestaunen. Für ihn gab es keine Glaswand mehr. Er, der arme Bauernbub, stand neben den Königen, er streichelte versunken das Jesuskind! Er war nicht mehr verschupft, er lebte einbezogen in den Kreis der heiligen Personen.
Der Priester beobachtete ihn immer noch. Und wieder stieg der Zorn in ihm auf. «Weiss er überhaupt, was das bedeutet? Was ihn anzieht, sind die Glanzpapiere, die prächtigen Stoffe. Sie sehen alle nur diesen Flitter, sie lieben Götzenbilder wie die Heiden!» Ah, wenn man ihn hätte gewähren lassen! Er hätte alles verbrannt: die Statuen, die Bilder … Vor allem diese Barockfiguren mit ihren verrenkten Körpern, ihrem rosigen Fleisch, ihren um und um vergoldeten Kleidern, von denen die Kapellen strotzten. Dort drüben, hinter dem geschlossenen Gitter des Chors sah er sie schimmern in verwirrendem Glanz zwischen den gewundenen Säulen ihrer Altäre. «In denen ist Gott nicht zu finden», empörte er sich.
Aber er war allein auf verlorenem Posten. Im Seminar hatte ihm seine Bilderstürmerwut den Übernamen Savonarola eingetragen. Und man lachte über seine Qualen. Auch die verabscheuten Gegenstände lachten ihn aus. Eines Abends hatte er im Hof hinter dem Pfarrhaus einen Scheiterhaufen errichtet und darauf in wildem Durcheinander Heilige, Engel, Kerzenleuchter, Altarflügel aufgeschichtet, die er in der Sakristei und im Glockenturm vorgefunden hatte. Aus Angst, dass man diese himmlischen Karikaturen, wie er sie nannte, wieder ans Licht ziehen könnte, hatte er beschlossen, sie verschwinden zu lassen. Und als die Flammen an den Statuen emporleckten und die nackten Cherubim mit ihren mörderischen Zungen herunterholten, hatte Pfarrer Rinati eine wilde Freude empfunden: die Freude des Inquisitors, wenn er Ketzer verbrennt. Aber er bemerkte einen grossen Erzengelkopf, der aus den Gluten herausragte und ihn mit weit geöffneten schwarzen Augen anstarrte … Da hatte er einen Stock ergriffen und mit dem Ruf: «Luzifer, sei verflucht!» auf ihn eingeschlagen, bis der böse Engel zusammenfiel.
Und weil er diese Krippe verschont hatte, die man nach altem Brauch zwischen Weihnachten und Epiphanias in der Kirche aufstellte, kam in der Nacht ein Kind, um sie zu betrachten.
Wer war dieses Kind? Er sollte es gleich erfahren. Eben stieg der Kleine ins Schiff herunter. Die Laterne erhellte sein Gesicht von unten und verzog es auf merkwürdige Weise, aber der Priester erkannte ihn. Es war der Schüler, welcher den Katechismus nicht hersagen konnte, Ursules uneheliches Kind.
– Was tust du da?
Als der Knabe ihn plötzlich vor sich stehen sah, erschrak er so heftig, dass er die Laterne fallen liess. Sie zerbrach auf den Fliesen und erlosch. Und da der Priester kein Wort mehr sagte und sich nicht rührte, lief er zur Türe und schlüpfte hinaus.
Anderntags begab sich Pfarrer Rinati zur Schule, seine Katechismusstunde zu halten. Schon in der Morgenfrühe hatte er das Glaskästchen unter den Arm genommen und war damit zu jener Schlucht gegangen, in die die Dorfbewohner alles hinunterwarfen, was sie nicht mehr brauchen konnten. Dorthin hatte er es geschleudert. Ein klingender Aufschlag, dann ein zweiter – schon weit weg –, das war alles. Seine Pfarrkinder würden inskünftig ohne ihre Krippe auskommen müssen. Was tat’s? Sie konnten ja in ihrem Herzen eine Krippe der Unschuld bereiten, um das Himmlische Kind zu empfangen.
Im Moment fühlte sich der Priester erleichtert. Seine Nerven entspannten sich. Er glaubte, seine Selbstbeherrschung wiedererlangt zu haben. Aber das gestrige Vorkommnis hatte ihm doch sehr zugesetzt. Wieder spürte er das Übel in sich aufsteigen; es war geradezu ein körperlicher Schmerz, als ob zwei teuflische Hände sich um seine Seele und um seinen Körper krampften. Es machte ihn jenen Bäumen ähnlich, die von fachkundigen Gärtnern gequält, verbogen, entartet werden. Aber die kamen noch zum Blühen, während er daran zugrunde ging.
Er betrat das Schulzimmer. Ein niedriger Raum mit einer Reihe kleiner Fenster gegen Süden. Darin waren alle Schulkinder des Dorfes untergebracht, Mädchen und Knaben; es waren nie über dreissig. Sie standen alle zusammen auf und stimmten ihren Singsang an: «Guten Tag, Herr Pfarrer! …» Der Lehrer verliess sein Pult und machte ihm Platz. Aber er zog es vor, stehen zu bleiben, und schritt im schmalen Geviert vor der Wandtafel auf und ab. Er öffnete den Katechismus auf Seite 28.
– Wir sind beim ersten Artikel über das Symbol, sagte er. Und er begann seine Fragen zu stellen.
– Albert! Was lehrt uns dieser erste Artikel?
Der Schüler stand auf und leierte in einem Zug herunter:
– Er lehrt uns, dass es einen einzigen Gott gibt in drei unterschiedenen Personen. Die erste wird der Vater genannt, der allmächtig ist und aus nichts Himmel und Erde geschaffen hat.
Der Priester hörte nur mit halbem Ohr hin, wiegte leise den Kopf im Rhythmus der Sätze, die nach so vielen Wiederholungen schliesslich jeder auswendig wusste, ob er sie verstand oder nicht.
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