Als Schweizer hat man in der globalisierten Welt nichts mehr zu sagen. Gefühle der Ohnmacht werden gerne mit grossen Worten kompensiert. Und wenn grosse Worte nicht mehr reichen, nimmt man eben unanständige. Der Populismus wird immer frecher, die Anwürfe immer primitiver. Im Schweizer Fernsehen muss sich ein Moderator zur besten Sendezeit auf eine Weise antisemitisch angehen lassen, die in keinem anderen Land möglich wäre, vielleicht mit Ausnahme Irans. Die Empörung darüber hält sich in sehr engen Grenzen. Genauso wenige stört es, wenn die grösste Partei der Schweiz mit Nazisymbolen Werbung macht. Die Einzige, die ihr Fett abbekommt, ist die Schriftstellerin, die darauf hingewiesen hat, dass die Ziffernfolge ‹88›, die in diesem Wahlclip einer Bundesratspartei präsentiert wird, unter Nazis als Chiffre für ‹Heil Hitler› steht. Sie muss sich von den Parteiideologen in ihren Kampfschriften anpöbeln lassen und erhält Morddrohungen, wie sie viele kennen, die hierzulande kritische Fragen stellen.
Man darf sich deswegen nicht beklagen. Andere zahlen einen noch höheren Preis. Etwa jener jüdische Mitbürger, der in Zürich am helllichten Tage von einem braunen Mob angegangen wurde. Zusammenhänge? Man wird doch nicht so paranoid sein! Suissemania: Der Wahnsinn, die Katatonie, die psychotische Störung können nicht ewig herrschen. Die Vernunft hierzulande ist nicht tot, sie schläft einfach sehr, sehr tief. Es wäre an der Zeit, sich zu regen und den Monstern zu trotzen, die ihre Ruhe gebiert. Sonst wartet am Ende einer langen Nacht ein böses Erwachen und als Trost nur die Nippessammlung, das Kloster Einsiedeln, die Schlacht am Morgarten und das Schellen-Ursli-Haus im schönen Graubünden, jedes davon durchschnittlich drei Zentimeter gross, aus ordinärem Plastik und selbstverständlich made in China.»
Bärfuss, Lukas. Die Schweiz ist des Wahnsinns. Ein Warnruf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2015.
Der Mensch ist das lebenslange Studienobjekt des Germanisten Peter von Matt. Zu Gewalt ist der Mensch fähig, aber auch zu Liebe und Versöhnung. In seiner Rede am 1. August 2009 auf dem Rütli verweist Peter von Matt auf die Gewalttätigkeit von Wilhelm Tell, aber auch auf den Rütlischwur und die Verbrüderung. Schillers Tell ist ein einsamer Mensch, glücklich scheint er nicht zu sein. Ist die Schweiz in der Verbindung mit Europa vielleicht auch glücklicher als alleine?
«Der Mensch ist das geschichtenerzählende Tier», 104sagt der Germanist Peter von Matt. Das Wort, die Sprache, die Literatur: Sie sind, was den Menschen ausmachen. Das Wort kann «gewaltlos und ohne Falsch» 105sein, aber auch gewalttätig, die Gewalt suchend 106und bewusst falsch, fake. Das ist der Ursprung jeder Geschichte: dass Menschen sie hören, dass sich die Menschen mit dieser Geschichte auseinandersetzen, dass sie sie beurteilen als eine gute oder schlechte, als eine wahre oder falsche Geschichte. In Geschichten geben Menschen Auskunft über Menschen und über ihr Verhalten.
Darin gründet die Liebe Peter von Matts zu den Menschen, zu den Existenzen. Über Tschechow schreibt er einmal: «Seine Botschaft ist sein Blick, seine Lehre die Einzigartigkeit jeder Figur.» 107Wer liest, dem bieten sich Einsichten in die Vielfalt der menschlichen Existenz. Und so einzigartig die Figuren in der Literatur auch sind, mal grundböse, mal liebend, mal offen, mal verschlossen – sie zu definieren, fällt einem schwer. Die Literatur hat nicht moralisch zu sein, sie hat aufzuzeichnen, sie hat die Beziehungen zwischen den Menschen wiederzugeben, sie hat den Menschen zu zeigen, wie er ist oder wie er sein könnte. Das moralische Urteil fällt ganz alleine auf den Leser zurück. Er selbst darf entscheiden, wer sich im Buch moralisch richtig verhält und wer nicht.
Zwei wesentliche Eigenschaften zeichnen den Menschen aus: Erstens ist er gewalttätig. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Gewalt. Die Literatur kann uns hier etwas lehren, sie kann uns Einsichten geben in die verschiedenen Formen von Gewalt, denn solange wir noch von Gewalt lesen, von Krieg, von Unterdrückung, solange können wir auch den Frieden wollen. Nichts ist schlimmer, als wenn die Menschen nicht mehr wissen, was Krieg ist. «Um Glück», sagt Peter von Matt, «eine bestimmte und fundamentale Form des Glücks, geht es überall, wo es um den Frieden geht. Dieses Glück wird nur erfahren, wer um das Gegenteil des Friedens weiss. Wo man es vergessen hat, wird der Frieden zum öden Alltag.» 108Das Gegenteil von Gewalt ist das Glück, die Liebe, in der Literatur der Kuss: Es ist die zweite wesentliche Eigenschaft des Menschen. Die Geschichte des Menschen ist auch eine Geschichte der Liebe. Die Liebe, der Kuss: meistens ein kurzer Moment in einer Geschichte, aber immer ansteckend. Ein weiterer Kuss muss folgen, und koste es das eigene Leben. Wer einmal geküsst hat, der «trägt das Wissen vom Glück immerzu mit sich herum», 109sagt von Matt.
Wer sich, wie Peter von Matt, den anthropologischen Konstanten der Intrige und des Kusses in ganzen Büchern widmet, für den ist Literatur auch ein «Spiel» zur Veranschaulichung des Menschen. «Alle Konflikte, in die die Menschen geraten können, hat die Literatur […] durchzuspielen, und desgleichen alle Formen ihres möglichen Ausgangs. Spiel als Erkenntnis.» 110Das Spiel der Literatur kennt keine Grenzen, auch keine Hierarchien. Alles ist erlaubt, einzig eine Interpretation muss möglich sein. Die Leserin, der Leser tritt in einen Dialog mit dem Stück: Was will ich aus dir lernen? Was nehme ich mit, was lasse ich zurück? Literatur provoziert also unzählige unterschiedliche Meinungen bei den Lesern. Auch dadurch wird Literatur menschlich, wird sie anthropologisch. «Der Streit der Meinungen» gehört für von Matt «zur Würde des Menschen». 111Die einzig wahre Meinung gibt es nicht, «die Wahrheit kommt immer in der Mehrzahl daher». 112
Eine Mehrzahl von möglichen Wahrheiten? Das ist etwas Neues in der Geschichte der Menschheit. War Wahrheit bis zur Aufklärung «von oben deklariert», 113war sie früher «Epiphanie», 114so ist sie heute für Peter von Matt ein «Resultat», 115etwas, das «gemeinsam errungen» 116wird. Das gemeinsame Ringen um Wahrheit ist Dialog, Diskussion, «das Gespräch, die Debatte, der Disput, der Diskurs». 117Wo dieser Diskurs nicht stattfindet, da herrscht Gewalt und Rechthaberei. Die Welt der Gewalt aber ist eine einfache Welt, oder um es in den Worten Peter von Matts zu sagen: «Sobald Schüsse fallen, wird die Welt einfacher.» Wenn man sich gegenseitig umbringt, dann «verschwinden alle Widersprüche. Man war in Probleme verstrickt, sie sind gelöst. Man hat sich mit Fragen herumgeschlagen, sie sind beantwortet.» 118In der Welt der Gewalt gibt es nur eine Wahrheit: Wir sind die Guten, die anderen sind unsere Feinde, sie sind die Bösen. Die Welt der Sprache, der Kommunikation – die Welt der Liebe, des Kusses? – ist komplexer, in dieser Welt gibt es viele Wahrheiten. Der Mensch muss «die Wahrheit suchen» und bleibt sich selbst damit treu: «Solange er weitersucht, bleibt er menschlich; sobald er damit aufhört, wird er gefährlich.» 119
Wo Dialog stattfindet, manifestiert sich Demokratie, es entsteht eine politische Öffentlichkeit. «Moderne Demokratien», so Peter von Matt, beruhen «auf dem Prinzip der Gleichheit.» Sie stellen somit einen wichtigen Gegensatz zur «Differenz» dar, die in heutigen populistischen Zeiten als etwas Unausweichliches verstanden wird, als eine «naturhafte Gegebenheit». 120Versteht man die modernen westlichen Demokratien als ein Produkt der Aufklärung, dann trifft Peter von Matt hier auf einen der wichtigsten europäischen Gegensätze überhaupt: den Gegensatz zwischen Natur und Vernunft. Es ist ein Gegensatz, der Peter von Matt bis heute nicht loslässt. Die populistische Hetze macht von Matt zu schaffen, die Verrohung der Sprache irritiert ihn zutiefst, so tief, dass er manchmal nicht mehr weiterweiss mit Europa. «Ich übersehe gegenwärtig nicht mehr, was in und mit Europa läuft», schreibt er in einer Notiz zu diesem Buchprojekt. «Ich fürchte Attacken gegen Europa aus der Mitte von Europa selbst heraus, die fatale Folgen haben könnten.» Da sich «die Wahrheitsfindung im öffentlichen Prozess» im Bereich der Sprache ereignet, benötigt sie laut Peter von Matt «eine entsprechende sprachliche Kultur. Die Qualität der Öffentlichkeit bemisst sich auch nach dem Entwicklungsstand ihrer Sprache.» 121Wo Komplexität herrscht, da darf die Sprache nicht vereinfachen. Wer achtsam in der Wahl seiner Worte ist, der ist es auch mit seinen Mitmenschen. Die Auseinandersetzung mit Sprache und Literatur führt zu einer Erkenntnis, die vielfältig, frei und beständig ist, weil sie sich immer wieder erneuert. «Literatur», so ist von Matt überzeugt, «kennt keinen Untergang ihrer Wahrheit.» 122Mit der rassistisch-populistischen Hetze, mit der Vereinfachung der Sprache erobert sich die gewalttätige Natur ihren Platz in der aufgeklärten europäischen Gesellschaft zurück. Nicht die Wahrheitssuche zählt mehr, sondern es wird eine Wahrheit gesetzt. Das führt zu Gewalt, sagt von Matt: «Die Wahrheit als Setzung schielt insgeheim immer auf Gewalt.» 123Wenn im heutigen Europa also die Menschenrechte kritisiert werden, wenn die universale Gleichheit an der Grenze im Mittelmeer haltmacht, wenn Wahrheiten Fake News werden, dann kann man die Ratlosigkeit Peter von Matts verstehen. Für ihn fällt Europa damit in einen Naturzustand zurück, von dem es sich die letzten Jahrhunderte versucht hat zu befreien. «Die Natur», so Peter von Matt, «kennt keine Rechte. Die Natur kennt nur Gewalt und List. Die freie Setzung der Menschenrechte ist daher eine der grössten Leistungen der Vernunft.» 124
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