Sprechen wir über Europa
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Für die Unterstützung des Buchprojekts danken wir:
André von Graffenried, Tagesschule Sesam in St. Wolfgang/Düdingen
Neue Europäische Bewegung Schweiz (Nebs) Valeria Caflisch
Karin Beyeler und Andreas Baumgartner Gerhard E. Schmid
Für die freundliche Genehmigung der Abdruckrechte danken wir dem Carl Hanser Verlag und dem Stämpfli Verlag.
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Lektorat:
Rachel Camina, Hier und Jetzt
Gestaltung:
Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich
Satz und Bildbearbeitung:
Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
Druck und Bindung:
CPI books GmbH, Ulm
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-478-0
ISBN E-Book 978-3-03919-951-8
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
© 2019 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz
www.hierundjetzt.ch
Einleitung
Gret Haller (*1947)
Auszug aus Europa als Ort der Freiheit, 2018
Lukas Bärfuss (*1971)
Die Schweiz ist des Wahnsinns, FAZ 15.10.2015
Peter von Matt (*1937)
Rede zum 1. August auf dem Rütli, 2009
Ben Vautier (*1935)
La Suisse n’existe pas, Weltausstellung in Sevilla, 1992
Jean Rudolf von Salis (1901–1996)
Rede am Jahreskongress der Europa-Union in Locarno, 4.10.1974
Karl Schmid (1907–1974)
Meditation über Europa, Rede in Berlin, 6.10.1957
Denis de Rougemont (1906–1985)
L’esprit européen, discours, tenu aux 1. Rencontres Internationales à Genève, 8.9.1946
Hans Bauer (1901–1995)
Wahneuropa oder Paneuropa, Rede in Basel, 10.11.1933
Paul Seippel (1858–1926)
Offener Brief an General Wille, National-Zeitung, 11.5.1920
Felix Ludwig Calonder (1863–1952)
Rede vor der eidgenössischen Bundesversammlung, 6.6.1918
Anhang
Um offen zu sein: Für das politisch organisierte Europa – die heutige Europäische Union – begann ich mich erst zu interessieren, als Griechenland in die schwere Krise schlitterte und ich auf einer Reise nach Athen zu einem Freund erstmals die Begriffe Troika und Staatsverschuldung hörte. Von Athen kehrte ich mit dem Eindruck zurück, Europa sei abzuschaffen. Wenig später startete ich bei der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs) ein Praktikum. Was als pseudorevolutionäre Idee ihren Anfang nahm, hat mich seither nicht mehr losgelassen. Mein Arbeitsbeginn war der 3. Februar 2014, eine Woche bevor die Masseneinwanderungsinitiative angenommen und das Sekretariat der Nebs mit Anmeldungen für eine Neumitgliedschaft überflutet wurde. Ich erschrak sehr. Wie kamen die Menschen dazu, für ein Europa einzustehen, das kleine Mitgliedstaaten wie Griechenland und Portugal mit hanebüchenen Fiskalregeln drangsalierte und sich offensichtlich nicht um demokratische Mitspracherechte kümmerte? Mir wurde bewusst, dass es offenbar gute Gründe gab, trotz Wirtschaftskrise und Demokratiedefiziten weiterhin an ein geeintes Europa zu glauben. Auf der Suche nach diesen Gründen habe ich eine Faszination erfahren, eine Hingabe, eine Begeisterung für ein politisches Projekt, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Nebs traf ich schliesslich auf Menschen wie Gret Haller oder André von Graffenried. Ich spürte ihre Leidenschaft für ein geeintes Europa, aber auch ihre Ängste und ihre Verunsicherung.
Mir wurde klar, dass die ambivalente Beziehung zu Europa für die Schweiz eine existenzielle Dimension hat: Sie definiert sich über sie, sei es in Abgrenzung oder als Modellfall. Läufts schief in Europa, rühmt sich die Schweiz sofort eines Besseren. Gelingt hingegen etwas, so weiss die Schweiz darauf hinzuweisen, dass sie als Vorbild dafür diente. Dieser Reflex existiert nicht erst, seit sich die Nachbarn in der EU organisiert haben. Er besitzt eine lange Geschichte.
Die zehn Reden und Texte, welche für dieses Buch ausgewählt wurden, stehen für drei spezifische helvetisch-europäische Themenkomplexe: Erster und wohl prominentester Gedanke ist die Idee, dass die Schweiz Europa ein Vorbild sein könne. Alle im Folgenden präsentierten Personen arbeiteten sich an dieser Thematik ab. Einig sind sie sich darin, dass die vielsprachige Schweiz etwas genuin Europäisches in sich trägt. Das Wesen der Schweiz «als eine vielgestaltige, in mehreren Sprachen redende, viele Meinungen bekennende Volksgemeinschaft», wie es Jean Rudolf von Salis beschreibt, ist tatsächlich einzigartig in Europa: Weder entsprechen die Sprach- den Konfessionsgrenzen, noch sind städtische Ballungszentren bestimmend für Kantonsgrenzen. Der vielfältigen politischen Zusammenarbeit sind damit kaum Grenzen gesetzt. Hinzu kommen die direktdemokratische Beteiligung der Bevölkerung sowie der föderale Aufbau der politischen Schweiz. Was von aussen betrachtet seine Schwierigkeiten in der augenscheinlichen Schwerfälligkeit hat, ist für die Schweizerinnen und Schweizer Ausdruck von Mitbestimmung und Schutz der Minderheiten. Wir alle wissen um die Dauer politischer Prozesse in der Schweiz: «Die wirklichen Abläufe geschehen» bei uns eben «gletscherhaft langsam in der Tiefe», so Peter von Matt. Unser politisches System fördert offenbar den Ausgleich, dominierende Parteien und Politiker werden früher oder später abgestraft, Kompromisse sind möglich, die vernünftige Mehrheit setzt sich – im Gegensatz zu den «Anhängern des Machtkultus», wie es Paul Seippel nennt – durch. Die vielgestaltige Schweiz bewegt sich stärker, als von aussen wahrgenommen wird. Was die politischen Grundkonzepte des Föderalismus und der direkten Demokratie betrifft, kann Europa von der Schweiz lernen, darüber sind sich die nachfolgend vorgestellten Personen einig. In dieser Idee enthalten ist auch der Gedanke der Weiterentwicklung: Das Projekt Europa ist noch längst nicht abgeschlossen, es kann und muss sich fortentwickeln. Begreift sich Europa als Projekt, das in einem demokratischen «Aushandlungsprozess», so Gret Haller, immer weiter ausgestaltet wird, so wird es auch zukunftsfähig sein.
Damit Europa gelingen kann, braucht es den politischen, mündigen Bürger, nicht das Individuum und nicht das Kollektiv, sondern die «freie und verantwortliche Person», sagt Denis de Rougemont; auch darüber herrscht Einigkeit bei den Autoren. Womit wir bei der zweiten Thematik dieses Buches sind: Europa als Ort der Aufklärung. Europa beginnt für die hier vorgestellten Schweizer Intellektuellen «mit der Aufklärung» und diese Aufklärung wiederum «mit einer Frage», so Lukas Bärfuss. Grundvoraussetzung für dieses aufgeklärte Europa ist der Gedanke der Gleichheit der Person in ihrer Unterschiedlichkeit. Ein jeder Mensch hat die gleichen Rechte, wiewohl er sich als Person von allen anderen Personen unterscheidet. Dasselbe gilt natürlich für grössere Einheiten, für Regionen, für Völker, für Nationen ebenso: Das aufgeklärte Europa, das ist nach Ben Vautier die «Gleichheit der Völker in ihrem Recht auf Verschiedenartigkeit». Als nichts anderes als ein «hohes Menschheitsideal» beschreibt es Felix Ludwig Calonder. Mag es in der Bundesratsrede vor 100 Jahren auch etwas pathetisch klingen, am Grundsatz lässt sich nicht rütteln. Als klare Befürworter der europäischen Aufklärung ragen die Persönlichkeiten aus der an sich schon kleinen Masse Schweizer Intellektueller heraus: Sie versuchen Verantwortung zu übernehmen in einer Schweiz, die sich auffallend häufig schwertut, für die europäische Aufklärung das Wort zu ergreifen.
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