Zu ergänzen ist, dass Trobisch selbst die geforderte radikale Beschränkung auf den handschriftlichen Befund nicht durchhält, sondern die Verwendung des Titels „Neues Testament“ für den zweiten Teil der Kanonischen Ausgabe vor allem auf der Basis frühchristlicher Literatur erschließt.15 Diese Vorgehensweise ist durchaus nachvollziehbar, da dieser Titel, wenn ich richtig sehe, in der neutestamentlichen Manuskripttradition bis zum siebten Jh. nur im möglicherweise sekundären16 Inhaltsverzeichnis des Codex Alexandrinus (dort aber mit Einschluss von 1–2 Clem)17 bezeugt ist.18
Blickt man nun auf die frühchristliche Literatur, so ist es sicher richtig, dass Clemens von Alexandrien, Origenes und Tertullian bereits den Begriff ἡ καινὴ διαθήκη zur Bezeichnung von autoritativen christlichen Schriften verwenden.19 Die Feststellung, „Clemens von Alexandrien, Irenaeus, und im frühen dritten Jh. Tertullian und Origenes benutzen mit Sicherheit die Bezeichnung Neues Testament im Sinne der Kanonischen Ausgabe “20, setzt allerdings das zu Beweisende in zweierlei Hinsicht voraus: Erstens in der Annahme, dass zu dieser Zeit eine Kanonische Ausgabe existiert und zweitens in der Annahme, dass die genannten Autoren, wenn sie die Bezeichnung ἡ καινὴ διαθήκη auf christliche Texte anwenden, dies im Hinblick auf die Kanonische Ausgabe – bestimmte 27 Texte in einem bestimmten Layout und einer bestimmten Anordnung – tun. Zudem wäre auch unter diesen Voraussetzungen der seine Polykarp-Schülerschaft betonende Irenäus von Lyon aus der zitierten Aufzählung zu streichen, da er, wie Trobisch selbst richtig anmerkt, den Begriff ἡ καινὴ διαθήκη gerade nicht in Bezug auf eine Textsammlung verwendet:21 Seit der Ankunft Christi ergeht das neue Testament über die ganze Erde (adv. haer. 4,34,4: A domini autem adventu novum testamentum ad pacem reconcilians et vivificatrix lex in universam exivit terram …) und durch den Heiligen Geist vollzieht sich zu Pfingsten die adapertio novi testamenti (adv. haer. 3,17,2).22
Allzu optimistisch urteilt Trobisch auch im Hinblick auf die bei Eusebius erhaltenen Belege aus Melito von Sardes (h. e. 4,26,13f) und einem anonymen Antimontanisten (h. e. 5,16,3). Sicherlich lässt sich die Rede des Antimontanisten vom „Evangelium des Neuen Bundes“, dem nichts hinzugefügt, noch weggenommen werden dürfe (vgl. Offb 22,18f), als Referenz auf einen geschriebenen Text verstehen – „[e]indeutig“23 ist dies nicht24 – , doch auch dann ist nicht automatisch davon auszugehen, dass der Antimontanist an die Kanonische Ausgabe denkt. Gleichfalls kann man, wenn Melito die Wendung τὰ τῆς παλαιᾶς διαθήκης βιβλία gebraucht,25 vermuten, dass ihm der komplementäre Begriff eines Neuen Testaments ebenfalls vertraut ist – allerdings sollte man beachten, dass die anschließende Aufzählung von wesentlich geringerem Umfang als die LXX-basierte Kanonische Ausgabe ist.26 Überdies ist bemerkenswert, dass der Kleinasiate Melito sich erst nach Palästina begeben muss, um sichere Auskunft über das alttestamentliche Schrifttum zu erlangen.
Um am Ende dieser wenigen grundsätzlichen Überlegungen zum 2 Petr zurückzukehren, sei an das bereits oben erwähnte Urteil des Eusebius erinnert. Als Schriften der καινὴ διαθήκη nennt Eusebius die vier Evangelien, Apg, Paulusbriefe, 1 Joh und 1 Petr, sowie mit Einschränkung Offb (h. e. 3,25,1f),27 bemerkt hingegen zu 2 Petr, er habe diesen Brief, der gleichwohl als χρήσιμος („nützlich“) gelte, als οὐκ ἐνδιάθηκος (h. e. 3,3,1; vgl. 3,25,6) empfangen. Mit dem vom Substantiv διαθήκη gebildeten Adjektiv ἐνδιάθηκος verwendet Eusebius dabei einen Begriff, welcher der Bedeutung „kanonisch“ im Sinne „einer Gruppe autoritativer christlicher Schriften zugehörig“ zumindest sehr nahe kommt.28 Unter der Annahme, dass Eusebius bezüglich des 2 Petr nur den theologischen Status einer schon seit fast zwei Jahrhunderten als Teil eines Buches namens καινὴ διαθήκη überlieferten Einzelschrift diskutiert, wäre dieser Sprachgebrauch einigermaßen überraschend.29 Vielmehr müsste Eusebius, um das, was er sagen will, korrekt auszudrücken, dann in etwa formulieren: „ Zwar ist 2 Petr Teil der (καινὴ) διαθήκη, er wird aber nicht als authentischer Petrusbrief und normativer christlicher Text bewertet. Gleichwohl gilt es als nützlich, ihn zusammen mit den anderen Schriften zu verwenden.“30
Es bietet sich an, bei der Besprechung der vier Hauptargumente für die Editionsthese dem vermutlich ältesten erhaltenen griechischen Manuskript des 2 Petr zu folgen. Gerade aufgrund seines idiosynkratischen Charakters, den David Trobisch völlig zu Recht betont,1 erscheint es mir ein heuristisch wertvoller Anknüpfungspunkt zu sein. Der im Handschriftenverzeichnis von Gregory/Aland als 𝕻 72geführte Textzeuge umfasst den vollständigen Text von 1 Petr, 2 Petr und Jud. Allerdings sind, was in der „Liste“ nicht unmittelbar erkennbar ist,2 diese drei Texte Teil eines Sammelkodex, der nicht nur eine Reihe weiterer frühchristlicher Texte enthält, sondern auch – wie unter anderem noch die differierende Paginierung verrät – aus unterschiedlichen Vorläufermanuskripten (bzw. Teilen von diesen) zusammengestellt und neu gebunden wurde.3 Ob sich in diesem Arrangement ein bestimmtes Sammlerinteresse oder gar eine theologische Intention erkennen lässt, ist eine spannende, aber kaum sicher zu beantwortende Frage.4 Ganz offensichtlich ist aber, dass als Trägermedium für 2 Petr hier ein (in diesem Fall aus Papyrusblättern hergestellter) Kodex , nicht etwa eine Schriftrolle, fungiert.
Dieses Spezifikum teilt 𝕻 72mit der großen Mehrheit christlicher Manuskripte – und zwar nicht nur jener ab dem 3./4. Jhdt. (der vermuteten Entstehungszeit des genannten Sammelkodex), einem Zeitraum also, in dem der Kodex als Medium auch für literarische Texte zusehends populär wird, sondern auch derer aus dem zweiten und frühen dritten Jh., in dem das weithin übliche Medium für literarische Texte noch die Rolle ist. Für diese deutliche Bevorzugung des Kodex seitens der frühen Christen wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Gründe geltend gemacht, eine einhellig akzeptierte Erklärung fehlt aber bislang.5
Für David Trobisch lässt sich „die Einführung des Kodex für die neutestamentlichen Texte“ am ehesten als Folge einer bewussten editorischen Entscheidung verstehen, da mit der „Einheitlichkeit in allen Teilen der Sammlung“ (sc. dem Alten und dem Neuen Testament, Anm. Grünstäudl) und der „von den Verfassern unabhängige[n] Einführung“ bereits „zwei Kriterien zur Bestimmung der Kodexform als Element der Endredaktion erfüllt [wären]“6.
Dieser Schluss ist meines Erachtens aus einem einfachen methodologischen Grund nicht zulässig: Der Kodex findet frühchristlich nicht nur für diejenigen Texte Verwendung, deren Präsenz in der Kanonischen Ausgabe angenommen wird.7 Wenn Larry Hurtado unter den von ihm gelisteten „second-century Christian codices“8 eine „far greater number of biblical texts in codex form“9 verzeichnet, so könnte dies auf den ersten Blick dennoch als Indiz für die Editionsthese gelten. Allerdings ist das Übergewicht der biblischen Texte unter den Kodizes dann nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sie auch das Übergewicht unter den gesamten erhaltenen christlichen Texten dieses Zeitraums bilden.10
Unter anderem wegen dieser christlichen „appropriation of the codex that appears to have been as thorough as it was early“11 lässt sich auch nicht wahrscheinlich machen, dass der Kodex zuerst nur für die der Kanonischen Ausgabe zugerechneten Texte Verwendung fand und dann (aufgrund des Einflusses dieser Edition) erst für andere christliche Texte in Gebrauch kam.
Читать дальше