Unter ‚Heteronormativität‘ versteht man die diskursive Abdrängung des same-sex-desire , also des gleichgeschlechtlichen Begehrens, als einer devianten, somit normwidrigen Erscheinung. Die Norm, dass Menschen das jeweils andere Geschlecht sexuell zu begehren haben, vermittelt zwar den Anschein der Natürlichkeit, in dem Sinne, dass Heterosexualität ‚naturgewollt‘ bzw. ‚naturentsprechend‘ sei, baut aber auf Prämissen auf, die kulturell vermittelt diesen Anschein des Natürlichen herbeiführen. So gilt es beispielsweise als natürliche Tatsache, dass es zwei Geschlechter gibt. Wie die Interviewaussage Butlers zeigt, herrscht bei Genderkonstruktivist*innen die Überzeugung vor, dass diese faktisch so evident scheinende Tatsache kulturell bedingt ist.
In der englischen Sprache lässt sich das Geschlecht eines Menschen mit zwei unterschiedlichen Begriffen bezeichnen. ‚ Sex ‘ wird als das biologische Geschlecht verstanden, ‚ Gender ‘ als die sozial-geschlechtliche Rolle. Im Deutschen können wir diesen Unterschied nur als biologisches oder soziales Geschlecht benennen. Es wird im Allgemeinverständnis davon ausgegangen, dass ein biologisches Geschlecht eine soziale Rolle nach sich zieht. Die Rolle sei vielleicht partiell veränderbar, die ihr zugrundeliegende Natur nicht. Das allerdings wird aus konstruktivistischer und queerer Perspektive bestritten. In der Argumentation für einen ‚Wahrheitsanspruch der Natur‘ wird die Möglichkeit bereits ausgeblendet, dass Menschen intersexuell geboren werden oder in der Pubertät hermaphroditisch werden können, also sexuelle Merkmale des anderen Geschlechts ausbilden. Diese Menschen lassen sich bereits ‚biologisch‘ nicht eindeutig im System der Zweigeschlechtlichkeit verorten. Die als Wahrheit geltende Prämisse, man/frau werde entweder als Frau oder als Mann geboren, blendet auch das Phänomen aus, dass einigen Menschen ein biologisches Geschlecht, in der Gendertheorie mit dem Begriff ‚ Sex ‘ bezeichnet, also die Kategorie ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ zwar attestiert wird, diese Personen sich aber in ihrem Rollenverhalten ( Gender ) entgegen der für sie gültigen Geschlechtsnorm verhalten. Dies kann so weit gehen, dass sie die an sie gestellte Rollenerwartung provokativ brechen, indem sie sich deutlich den Rollenerwartungen unterwerfen, die für das Geschlecht gelten, dem sie begrifflich nicht angehören. Wie Eveline Kilians Analysen darlegen, gibt es in der Literaturgeschichte Beispiele für diese Phänomene. Ob es dabei um Transsexualität geht, also das Bestreben unter Zuhilfenahme eines operativen Eingriffs und hormoneller Therapie eine andere Geschlechtsidentität anzunehmen, um Travestie, also den Wunsch, sich nach Normen des anderen Geschlechts zu kleiden und zu stilisieren, oder ob wir weniger auffällige Erscheinungen wie betont burschikose Mädchen und feminin erscheinende Männer, die um 2000 sogar ein Männlichkeitsideal verkörperten, im Blick haben – dieses Wissen kann wenig daran ändern, dass wir an unseren medizinischen, juristischen, sozialen Vorstellungen von ‚naturgegebener‘ Zweigeschlechtlichkeit festhalten. Das tun wir, obwohl auch aus der Biologie Stimmen laut werden, die die Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit kritisch erforschen und empirisch widerlegen.5
Die Hinterfragung der Zweigeschlechtlichkeit und die Heteronormativitätskritik sind keine geisteswissenschaftlichen Blüten, die sich betont von den Naturwissenschaften abgrenzen. Doch weiterhin operiert unsere Vorstellung von Geschlechtern mit einer Kette von sozialen Erwartungen und biologistischen Vorurteilen. Judith Butler bezeichnet das kulturelle Geschlechterarrangement, das zwei Geschlechter als sich gegenseitig ausschließende Pole als Norm setzt, als ‚heterosexuelle Matrix‘.6 Von einem biologisch als Mann geltenden Menschen erwarten wir, dass er sich männlich verhält – ein schweres Unterfangen, weil die Vorgaben darüber, was als ‚männlich‘ gilt, nicht eindeutig sind – und seiner Natur gemäß Frauen zu begehren hat. Für einen biologisch als Frau geltenden Menschen gilt im Umkehrschluss dasselbe. Eine Frau soll sich weiblich verhalten, was noch um Einiges schwieriger ist, weil die Rollenstereotype von Weiblichkeit noch kurzlebiger und kontextabhängiger als die von Männlichkeit sind, eingedenk der Tatsache, dass die feministischen Wellen ebenfalls deutlich dazu beigetragen haben, ‚Weiblichkeit‘ als Rollenvorgabe zu kritisieren. Nichtsdestotrotz gelten bestimmte Vorschriften für sie, nach denen reziprok von ihr erwartet wird, dass sie ihr Begehren auf einen Mann richtet. Eine Geschlechtsidentität setzt sich also aus den Kategorien ‚ Sex ‘ (biologisches Geschlecht), ‚ Gender ‘ (soziales Geschlecht, also geschlechtliches Rollenverhalten) und ‚ Desire ‘ (Begehren des anderen Geschlechts) zusammen. Diese Kategorien müssen kohärent sein, um eine mit der heterosexuellen Matrix in Einklang stehende Geschlechtsidentität zu bilden.
Das heterosexuelle Begehren wird auch mit einem weiteren Totschlagargument verteidigt: Neben dem Verweis auf die Existenz von zwei Geschlechtern dient der Hinweis, dass sich diese männlichen und weiblichen Wesen (man bedenke allerdings ‚nur‘ unter bestimmten Umständen) erfolgreich fortpflanzen können, als Fundament der Heteronormativität. Sexualität diene hauptsächlich der Fortpflanzung und mit diesem moralischen Diktum schreibt man den Geschlechtern ein ‚naturgewolltes‘ Begehren zu. Die kulturelle Norm der Reproduktion sorgt dafür, dass wir ein kinderloses heterosexuelles Paar für ‚natürlicher‘ halten als ein homosexuelles Paar, das Kinder hat, weil wir nämlich die Reproduktion, die nur heterosexuell erfolgen kann, als eigentliche Ursache der Paarbildung deklarieren, selbst dort, wo (heterosexuelle) Paare weder Kinder haben können noch wollen. Wenn wir gegen die (angebliche) Natur begehren, gilt dies vielleicht (zumindest in der säkularisierten Kultur, in der wir aufgewachsen sind) nicht mehr als Sünde, aber doch als ‚abnorm‘. Da sich die meisten Menschen tolerant wähnen, wird die Lebensform zwar akzeptiert, doch auch für so manchen Toleranten bleibt Homosexualität dem Wortsinn nach ‚abwegig‘. Die 2017 im Bundesrat verabschiedete ‚Ehe für alle‘ ist zwar ein Meilenstein für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensformen. Sie ändert jedoch nicht sofort unser Begriffssystem. Die Tatsache, dass Menschen, die das eigene Geschlecht begehren, keine prokreative Sexualität mit der begehrten Person leben können, also eine Sexualität, die primär dem Zweck der Zeugung von Nachkommenschaft unterstellt ist, wurde in unserer Kultur als festes Zeichen dafür gedeutet, dass die Natur ‚wünscht‘, dass Männer eben nur Frauen begehren (natürlich die ‚richtigen‘, also gebärfähigen und -willigen) und andersherum. Diese Logik ist jedoch inkonsistent. Wenn die Natur so klug ermäße und einen Schöpfungswillen hätte, wie kann sie zeugungsunfähige Männer, unfruchtbare Frauen oder Menschen ohne Kinderwunsch hervorbringen? Wieso verlangt es Menschen auch unabhängig von einem Kinderwunsch nach Sexualität? Wären diese sexualfreudigen, aber kinderlosen Menschen nicht ebenso von Mangelhaftigkeit gekennzeichnet wie intersexuell geborene Menschen, was sie ähnlicher, wenn auch nicht gleich starker Diskriminierung aussetzen müsste? Ist es ein Verrat an der Natur, ein Kind mit einem anderen Menschen großzuziehen als mit dem Menschen, mit dem es gezeugt wurde? Sind alte Menschen, die keinen prokreativen Geschlechtsverkehr mehr haben können, in ihrer Sexualität auch naturwidrig? Halten wir es für legitim, wenn sie noch Begehren spüren oder äußern? Dürfen Menschen, die keine Kinder wollen, eigentlich jemanden ‚begehren‘? Im 19. Jahrhundert wäre die Frage in Bezug auf Frauen sofort verneint worden. Anständige weibliche Wesen hätten überhaupt kein sexuelles Begehren zu haben, allein ihr unumstrittenes Schicksal, von Gott oder Natur zur Mutterschaft berufen zu sein, zwänge sie, Sexualität über sich ergehen zu lassen. Eine aktiv begehrende Frau wäre im 19. Jahrhundert ebenso suspekt wie im 20. Jahrhundert eine Frau, die kein körperliches Begehren kennt. Sowohl die hier gestellten Fragen als auch die historischen Kontextualisierungen erweisen sich bereits als queere Intervention, weil sie an der Logik rütteln, dass Sexualität nur vom prokreativen Sexualakt und nur von der Zweigeschlechtlichkeit aus gedacht werden kann und dass rein lustbetonte Sexualität, sowohl hetero- als auch homosexueller Art, eigentlich nur ein Derivat dessen sei, was Natur ‚ursprünglich‘ vorgibt. Bereits heterosexuelle kontrazeptive Sexualität gewinnt bei näherer Betrachtung nach dieser Logik den Anschein des Unnatürlichen.
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