[W]e can define visual poetry as poetry meant to be seen. Combining painting and poetry, it is neither a compromise nor an evasion but a synthesis of the principles underlying each medium. (Bohn 1987, 2)
Willard Bohn beschreibt visual poetry als eine Kombination von Bild und poetisch-diskursivem Text, wie er nachfolgend bezüglich der Verwendung von poetry näher erläutert (vgl. ebd.). Visuelle Poesie ist dementsprechend als eine Kunstform zu verstehen, die bildliche wie schriftsymbolische Elemente verwendet, um sie zu einer Botschaft poetisch zu verdichten. Sie lässt sich somit in der Schnittmenge von bildender Kunst und Literatur verorten und muss – um bei den Worten Bohns zu bleiben - nicht nur gelesen, sondern auch „gesehen” werden. Bohns Definition ist eine allgemein deskriptive, wissenschaftliche und historische, die eine durch Sammlungen von visuellen Gedichten, Dichtern und Gruppierungen beziehungsweise Bewegungen (beispielsweise Futurismus, Guillaume Apollinaire, calligrammes , Joan Salvat-Papasseit, Ultraismus) repräsentierte poetische Gattung beschreibt.
Hieran lässt sich die Definition des katalanischen visuellen Poeten Joan Brossa (einer der Hauptakteure der Poesía Visual) anschließen, die zur gleichen Zeit entstand und aus Sicht des Dichters insbesondere auf die Bedeutung des Visuellen für die zeitgenössische Dichtung eingeht:
La poesia experimental del nostre temps és la poesia visual. El poeta muda de codi; deixa el codi literari i s’expressa en un llenguatge que s’esdevé de la recerca d’una nova dimensió entre allò visual i allò semántic. El poema visual no ès ni dibuix ni pintura, sinó un servei a la comunicació. Un intent ben típic del nostre temps en què la funció de la imatge ha adquirit una gran importància. (Brossa 1984 in Bordons et al. 2008, 187)
La poesía experimental de nuestro tiempo es la poesía visual. El poeta cambia de código; deja el código literario y se expresa en un lenguaje que acontece en la búsqueda de una nueva dimensión entre lo visual y lo semántico. El poema visual no es ni dibujo ni pintura, sino un servicio a la comunicación. Un intento muy típico de nuestro tiempo en que la función de la imagen ha adquirido una gran importancia. (Übersetzung von Carlos Vitale Bordons et al. 2008, 190)
Brossas Auslegung ist insbesondere in Bezug auf zwei Gesichtspunkte interessant: Zum einen beschreibt er die Poesía Visual als eine Erscheinungsform der poesía experimental und klassifiziert sie demnach als Genre derselben; zum anderen legitimiert er die kommunikativ-gesellschaftliche Teilhabe der visuellen Poesie. Er versteht das Bild als sprachliche Einheit und beschreibt die kommunikative Funktion von Bildern als einen sprachlichen Code, der dem Dichter neben einem código literario (dt. schriftsymbolischer Code) zur Verfügung stehe. Das poema visual wird von ihm - mit „un servei a la comunicació“ - deutlich als Botschaft definiert, die sich an eine zeitgenössische, visuell geprägte Gesellschaft richtet.
In der Aussage Brossas liegt ferner ein strukturalistisches Verständnis von Dichtung: Dass Sprache in all ihren Facetten poetisch verwendet werden kann, erscheint einleuchtend. Allerdings ist poetische Sprache von nicht-poetischer Sprache zu unterscheiden. Dies gelingt, weil nicht-poetische Sprache eine eher zufällige und meist planlose Ausdrucksform darstellt, wohingegen poetische Sprache geplant und insbesondere nicht-zufällig zustande kommt (vgl. Jakobson 1960, 85). Wenn Poesie als Sprache bezeichnet wird, liegt eine linguistische Betrachtung zugrunde, die anhand Jakobsons strukturalistischer Definition von Poesie und poetischer Sprache zusammenfassend wie folgt erklärt werden kann: Poetische Sprache ist ein verbales Sprachverhalten, das auf den grundlegenden Operationen von „Selektion” und „Kombination” beruht (vgl. ebd., 94). Das bedeutet, dass sich poetische Texte im Wesentlichen von nicht-poetischen unterscheiden, weil sie a) nicht-zufällig entstehen und b) sich aus selektierter und kombinierter Sprache zusammensetzen. Poesía Visual ist daher, nach Brossas Verständnis, eine nicht-zufällige, selektierte und kombinierte visuell-verbale sprachliche Ausdrucksform.
Nicht zu ignorieren ist schließlich der Umstand, dass Poesía Visual als grenzüberschreitendes hybrides Konzept nur bedingt definierbar ist. Aufgrund ihrer Anwendung „en un proceso abierto y cambiante“ (Fernández Serrato 1995b, 43) erweist sich auch darüber hinaus eine Klassifizierung als schwierig.
Auf die Frage, was Poesía Visual ist, biete ich folgende Definition an, die sowohl an den herangezogenen theoretischen Definitionen als auch den Stellungnahmen der Dichter anknüpft.
Im Rahmen der vorliegenden Dissertation wurden mit Dichterinnen und Dichtern aus der aktuellen Szene in Spanien schriftliche Interviews geführt (siehe Anhang 1) und Stellungnahmen zur aktuellen Poesía Visual eingeholt. Es wurden insgesamt 20 Dichterinnen und Dichter angeschrieben. Von ihnen haben 14 (12 Dichter und 2 Dichterinnen) dem Interview zugestimmt und die Fragen schriftlich (digital) beantwortet.5 Die Stellungnahmen geben Aufschluss über das Selbstverständnis der Poesía Visual. Die Antworten fließen mit inhaltlich vergleichbaren Publikationen (vgl. Fernández Serrato 1995a; Reglero 2013), in die folgende Definition sowie in die Reflexionen über das Selbstverständnis der Poesía Visual, poética interna , ein (vgl. Kapitel 1.3.2.2).
Unter Berücksichtigung dessen verstehe ich Poesía Visual im Rahmen meiner Forschungsarbeit als ein Genre der poesía experimental , in dem eine Botschaft mittels bildlicher und schriftlicher Codes (ikonischer und symbolsicher Zeichen) verdichtet wird. Ich untersuche hier lediglich jene Produktionen ab den 1970er Jahren, die auf der iberischen Halbinsel entstanden sind.6
1.2 Zur Begriffsklärung: Poesía experimental , poesía concreta oder poesía visual ?
Eine Betrachtung der Poesía Visual7 gestaltet sich insofern als schwierig, als es sich um ein begrifflich äußerst inkonsistentes Phänomen handelt. Die Bezeichnungen wie poesía concreta , poesía concreto-visual oder poesía experimental , die auf ein verwandtes Phänomen hindeuten, stellen sich als irreführend heraus, denn die Begriffe werden teilweise synonym verwendet. Dieses grundsätzliche „problema de la denominación“, wie Juan Carlos Fernández Serrato es nennt, erweist sich als regelrechte Begriffsverwirrung, die es im Folgenden zu beseitigen gilt (1995b, 43 ff., und 2003, 21 ff.). Dabei soll es vor allem darum gehen, diese tradierten Begriffe im Kontext und in Beziehung zur Poesía Visual nachzuzeichnen, um damit einem Definitionskonflikt auszuweichen.
Die Begriffskonfusion hat zwei Ursachen: Zum einen wurden die Bezeichnungen poesía concreta und poesía visual von der deutschen Tradition der Konkreten Poesie beeinflusst, zum anderen ist poesía experimental ein Begriff, der sich in der spanischen segunda vanguardia als Oberbegriff für verschiedene poetische Praktiken entwickelt hat. Die sich zum Teil überlappenden Bedeutungen der vorliegenden Bezeichnungen beruhen auf der grenzüberschreitenden Tendenz der jeweiligen künstlerischen Ausdrucksformen. Poesía visual , poesía experimental , poesía concreta etc. liegen nicht sehr nah bei einander, sondern vielmehr in einander, sodass sie nur bedingt isoliert voneinander betrachtet werden können. Die synonyme Verwendung der Bezeichnungen und die damit einhergehende Begriffsverwirrung ergeben sich demnach als logische Konsequenz.
Poesía concreta ist neben Poesía Visual eine Erscheinung, die - wie im Zusammenhang mit der Konkreten Poesie noch näher erläutert wird - als Teilgebiet der poesía experimental angesehen werden kann. Hingegen bezeichnet poesía de vanguardia die Dichtkunst der (Neo-)Avantgarde, die als übergeordnetes Konzept poesía concreta und poesía experimental mit einschließt. Bevor genauer auf die beiden Ursachen für die Begriffsverwirrung eingegangen wird, soll die folgende Grafik veranschaulichen, wie die Beziehung der diskutierten Bezeichnungen zueinander zu verstehen ist (Abbildung 1).
Читать дальше