Das folgende Gedicht (Abbildung 5) veranschaulicht beispielhaft die beschriebene Charakteristik.
Abbildung 5.
Obsesión (2003), Maite Díaz Fernández, in: Diputación Badajoz 2003, o.S.
Das Wort obsesión ist in verschiedenen Größen unzählige Male übereinander abgedruckt, sodass es teilweise unlesbar und nur als schwarze Drucktinte erscheint. Die Verbindung zwischen dem visuell dargestellten Wort ( signifiant ) und dessen Bedeutung ( signifié ) wird im Gedicht deutlich. Die Besessenheit ( obsesión ) des lyrischen Ichs kommt durch die grafische Darstellung des Wortes, das wie verbissen und fanatisch unendlich oft über- und aufeinander getippt (oder gestempelt) wurde, zum Ausdruck.
Weniger solche Zeichen des Alphabets als solche, die aus ikonischen Elementen bestehen, sind die Hauptbestandteile der poesía semiótica . Jedes ikonische Zeichen – Zeichnungen, Gemälde, Fotografien, Piktogramme (wie etwa Verkehrszeichen) – kann zur Vermittlung der poetischen Botschaft verwendet werden. Die Bezeichnung semiótica , so Morales Prado, weise bewusst auf Semiologie und Semiotik und soll die visuell stark verschlüsselte Botschaft im poema zum Ausdruck bringen (vgl. Morales Prado 2004, 13). Die bildlichen Elemente müssen als Zeichen gelesen werden. Meist sind diese unkonventionell zusammengestellt, was im Titel oftmals aufgegriffen und symbolschriftlich erklärt wird. Der Titel spielt bei diesen Gedichten eine zentrale Rolle. Allerdings sind poemas semióticos nicht zwingend mit einem Titel versehen. Hauptbestandteile und Gegenstand von poemas semióticos sind ikonische Zeichen.
Anhand des Gedichts Sentimiento de culpa (Abbildung 6) lässt sich das poema semiótico beispielhaft veranschaulichen.
Abbildung 6.
Sentimiento de culpa (2007), Claudia Quade Frau, in: Diputación Badajoz 2007, 10.
Auf einem schwarzen Hintergrund mit abgerundeten Ecken ist in einem weißen Viereck, einem Verkehrsschild zum Verwechseln ähnlich, eine Tanksäule abgebildet, die das Zapfventil (aufgrund der Ähnlichkeit umgangssprachlich auch Zapfpistole genannt) wie eine Pistole gegen sich richtet. Wenn die Zapfsäule als Illustration einer menschlichen Figur gedeutet wird, hält sie das Zapfventil (die Pistole) in Kopfhöhe gegen die Schläfe. Es entsteht der Eindruck, die Zapfsäule wolle Suizid begehen. Im Titel ist das Motiv benannt, das die Zapfsäule zum Suizid bewegt: Schuldgefühle. Möglich ist, dass dieses Gedicht aus Sicht des Kraftstoffspenders (der Tanksäule) die weltweiten politischen Konflikte um den Ölmarkt thematisiert.
Im Gegensatz zu den drei oben vorgestellten Typen, die sich auf Papier zweidimensional präsentieren, werden im poema objeto Objekte, meist dekontextualisierte Alltagsgegenstände, kombiniert mit anderen plastischen Stoffen poetisch und metaphorisch in einen Bedeutungszusammenhang gebracht. Objektgedichte sind dreidimensional und haptisch wahrnehmbar, ähnlich wie plastische Kunstwerke oder Skulpturen. Sie werden in der Regel im Original, wie Kunstwerke, ausgestellt und archiviert. Da ihre Verbreitung jedoch aus pragmatischen Gründen (dreidimensionale Werke sind aufwendig in der Reproduktion) auf fotografischem Wege erfolgt, geht der Aspekt der Dreidimensionalität und somit die haptische Komponente verloren. So werden abfotografierte poemas objeto als poemas visuales behandelt. Trotzdem besteht ein Unterschied in der Beschaffenheit der Bestandteile; diese sind - mit Ausnahme des Titels - hauptsächlich plastischer Natur. Im poema objeto ist die Kernthematik der Alltagsgegenstand. Angelehnt an das avantgardistische objet trouvé oder Ready-Made liegt die Aufgabe des poema objeto darin, alltägliche Gegenstände zu dekontextualisieren und in poetisch zusammengesetzten Szenarien zu präsentieren.
Ähnlich wie bei poemas letristas können die konventionellen Funktionen der Gegenstände vom Leser nur schwer ausgeblendet werden. Der dadurch entstehende Bedeutungszusammenhang wird als zufällig erachtet und phänomenologisch zurückverfolgt. Seine detaillierte Berücksichtigung in der Interpretation würde daher zu weit greifen.
Abbildung 7.
El abrazo (2006), María Gómez Garrido, in: Diputación Badajoz 2006, 92.
Im Gedicht El abrazo (Abbildung 7) beispielsweise sind zwei Türklinken derart nebeneinander platziert, dass die Griffe zueinander verlaufen und zudem aufeinanderliegen. Der Titel weist auf die intendierte Zusammenstellung hin, sie erinnern in dieser Form an eine menschliche Umarmung. Der Gedanke, dass Türklinken Gegenstände sind, die das Öffnen und Schließen von Türen ermöglichen, kann ein Hinweis für einen möglichen Deutungsansatz sein. Wenn die Türklinken allerdings, wie im poema, „einander umarmen“, wird kein funktionaler Gebrauch mehr realisierbar sein.
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