Das symbolische Zeichen (Symbol)21 hingegen konstituiert eine nurmehr abstrakt nachvollziehbare Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat. Ungeachtet einer Ähnlichkeit mit dem zu bezeichnenden Objekt, wie im Falle des ikonischen Zeichens, stellt das symbolische Zeichen eine konventionelle Kodierung dar, wie beispielsweise die Schrift. Der wesentliche Unterschied zwischen Schrift und Bild ist, dass Schrift vorrangig auf symbolische und das Bild vorrangig auf ikonische Zeichen zurückgreift. Obwohl diese Feststellung banal erscheint, für die Bestimmung von Schrift und Bild im poema visual erweist sich die Unterscheidung zwischen ikonischen und symbolischen Zeichen als äußerst ergiebig. Beispielhaft lässt sich diese Überlegung anhand des Gedichts Poema llave (Abbildung 3) erläutern.
Abbildung 3.
Poema llave (2007), Eddi J. Bermúdez, unveröffentlicht.
Das Gedicht stellt das Wort poema dar, dessen Buchstaben jeweils aus einem Schlüsselbart hervorgehen, entsprechend gehen die Buchstaben in grafisch dargestellte Schlüsselfiguren über. Aus zeichentheoretischer Sicht lassen sich zwei Zeichenreihen (eine lineare Annordnung von Zeichen; vgl. Bense/Walter 1973, 134) bestimmen: eine symbolische Zeichenreihe, repräsentiert durch die fünf Buchstaben p-o-e-m-a , und eine ikonische Zeichenreihe, bestehend aus insgesamt fünf grafisch dargestellten schwarzen Schlüsseln. Das ikonische Zeichen, das Bildliche in dem visuellen Gedicht, ist die visuelle Darstellung der Schlüssel, das symbolische Zeichen gibt entsprechend das schriftliche Wort poema wieder. Gemeinsam konstituieren sie die Bedeutung, poema llave und lassen auf die Funktion der Dichtung als Schlüssel zu anderen geistigen Erkenntnissen oder auf die Aussage, dass Gedichte zu entschlüsseln sind, schließen.
Allerdings lässt sich eine Zuordnung nicht immer eindeutig abgrenzen, weil, wie aus medientheoretischer Sicht betont wird, stets zu berücksichtigen ist, dass auch Schrift über ikonische und Bilder über symbolische Eigenschaften verfügen (vgl. Eco 1972, 213; Nöth 2000, 481 f.). Beim poema llave (Abbildung 3) bestehen die Schlüsselbärte aus Buchstaben, sie sind also gleichermaßen Schrift wie Bild.
Die komplexe Frage, inwiefern das Sprachsystem als symbolisch-konventionell-dominantes Zeichensystem auch ikonische Zeichen produziert und entsprechend das bildliche Zeichensystem über symbolische Eigenschaften verfügt, wird in der Theorie kontrovers diskutiert (vgl. u. a. Clausen 1984; Eco 1972; Weiss 1984). Selbstverständlich verfügt Sprache bereits in ihrer grafischen Darstellung über einen ikonischen Charakter (womit sich beispielsweise die Typografie befasst). Auch birgt das Bild symbolische Zeichen (Farben, Formen etc.), die dementsprechend symbolisch entschlüsselt werden müssen. Eine strikte Beschränkung ikonischer Zeichen auf das Medium Bild und symbolischer Zeichen auf Schrift ist nicht zweifelsfrei möglich. Die Grenzen werden als fließend definiert (vgl. Eco 1972, 216 f.).
1.5 Typen von poemas visuales
Morales Prado (2004, 11 ff.) schlägt neun tipos de poesía experimental vor, die von Maria Ángeles Hermosilla (2013, 27 ff.) übernommen und im Hinblick auf das Visuelle, “la imagen en el experimentalismo español actual” (ebd., 23), respektive die Poesía Visual auf vier Grundtypen reduziert werden. Hermosilla beschränkt sich mit ihrer Typologie auf die letzten dreißig Jahre (vgl. ebd., 27). In Anlehnung daran werden nachfolgend vier Typen von poemas visuales beschrieben und anhand von Beispielen veranschaulicht.
An zwei Stellen habe ich die Typologie von Hermosilla modifiziert: Erstens bezeichne ich den Typ „poema concreto“ (ebd., 31) als poema concreto-visual (nach Fernández Serrato 1995b). Dadurch wird einerseits die Visualität im Begriff unterstrichen und andererseits Missverständnissen ausgewichen. Zweitens habe ich den Typ „poema objeto y otras modalidades experimentales“ (ebd., 37), der neben Objektgedichten andere experimentelle Formen (wie beispielsweise el happening, la poesía acción, la videopoesía etc.) zusammenfasst, auf das poema objeto beschränkt. Aufgrund der unscharfen Beziehung zur Poesía Visual bleiben die erwähnten weiteren experimentellen Formen im Folgenden ausgespart.
Die einzelnen Typen sind als Tendenzen zu verstehen und daher nicht klar voneinander abzugrenzen. Mischformen sind die Regel.
Bezugnehmend auf die dadaistische, von Isidore Idou gegründete Bewegung lettrisme (frz. von lettre ) hat diese Gedichtform den autonomen, isolierten Buchstaben zum Gegenstand (vgl. van den Berg/Fähnders 2009, 191). Lettrismus wird von Idou beschrieben als „el arte que acepta la materia de las letras reducidas y convertidas simplemente en ellas mismas para vaciarlas en un molde de obras coherentes“ (zit. in Millán/García Sánchez 2005 [1975], 21; Hervorhebung v. d. Verf.). Der Buchstabe hat neben seiner phonetischen auch eine grafisch-visuelle Seite, die vornehmlich im poema visual letrista zum Ausdruck kommt. Die grafische Dimension der letras ist hier insofern ausschlaggebend, als weder die phonetische Entsprechung der Buchstaben übermittelt, noch eine lineare Textkonstruktion verfolgt wird. Der Buchstabe wird somit nicht nur isoliert, sondern visuell selbstverwirklicht und von seiner schriftsymbolischen Funktion befreit. Dabei können die verwendeten Buchstaben durch weitere Bildelemente (wie etwa Piktogramme, Fotos, Zeichnungen etc.) ergänzt werden (vgl. van den Berg/Fähnders 2009, 191). Auch wenn der befreite Buchstabe Gegenstand des Gedichtes ist, so können – oft unbewusst - schriftsymbolische Funktionen (wie z. B. Anordnung im Alphabet, Klein- oder Großschreibung, bestimmte kulturell konnotierte Buchstaben, etc.) oder phonetische Aspekte (Laute, Lautfolgen etc.) vom Leser nicht völlig ausgeblendet werden, was oft zu kontroversen Interpretationen führt (vgl. Morales Prado 2004, 12).
Ein Beispiel für ein poema visual letrista ist das folgende Gedicht von Julián Alonso (1994) (Abbildung 4).
Abbildung 4.
Uves migratorias (1994), Julián Alonso, in: López Gradolí 2007, 35.
Der Buchstabe V wird einundzwanzigmal pyramidenartig so platziert, dass die dreieckige pfeilartige Form des Buchstabens sich in der geometrischen Gruppierung widerspiegelt. Das Gedicht hebt daher insbesondere die grafische Form des Buchstabens V hervor. Daneben bestätigt der Titel22 Uves migratorias die Annahme, dass es sich um die Darstellung eines Vogelschwarms handelt. Die phonetische Nähe von uves zu aves lässt zudem das Sprachspiel uves migratorias anstatt aves migratorias zu und vervollständigt auf raffinierte Weise die grafische Darstellung eines Zugvogelschwarms, bestehend aus uves .
1.5.2 Poema concreto-visual
In diesem Typus werden Wörter und Begriffe aus einem Bedeutungszusammenhang befreit und visuell in Szene gesetzt – „[la] palabra se independiza de la frase“ (Hermosilla 2013, 31) – und mit Blick auf ihre Bedeutung beziehungsweise ihre Bedeutungen grafisch-visuell gestaltet oder mit Bildelementen versetzt. Die grafischen und bildlichen Zusätze stehen semantisch in direktem Zusammenhang mit dem Begriff. Das poema concreto-visual trägt nur in seltenen Fällen einen Titel, der von dem im Gedicht dargestellten und thematisierten Wort abweicht. Hauptbestandteil und Gegenstand ist das Graphem eines Wortes. Die Bezeichnung lehnt sich an die Konkrete Poesie an.
Читать дальше