Interessant erscheinen zudem die Äußerungen der Befragten zum Phänomen der „Poesía Visual Española“ ( Entrevista , Fragebogen, Frage 1), aus denen fast ausnahmslos hervorgeht, dass die Dichterinnen und Dichter eine nationale Spezifik der visuellen Poesie als nicht zutreffend betrachten und dagegen sogar darauf bestehen, dass die Poesía Visual als „en gran medida universal“ verstanden wird „y en ese sentido sería equiparable [..] a la de cualquier otra parte del mundo“ ( Entrevista Juan Rosco Madruga, Frage 1). Hier könnte wieder der avantgardistische Hintergrund die Ursache für das Verständnis des „idoma universal“ ( Entrevista Francisco Peralto, Frage 2) als die Sprache der Poesía Visual sein. Allerdings können genauso anti-nationalistische Haltungen, die in künstlerisch-intellektuellen Kreisen Usus sind, die Dichterinnen und Dichter zu ihren Äußerungen bewegt haben.
In den Stellungnahmen geben die Dichterinnen und Dichter in den Antworten auf Frage 6 ( En pocas palabras: ¿podrías describir tu poética? , Fragebogen, Anhang 1) teilweise sehr ausführlich Auskunft über ihre poetischen Prinzipien. Zu finden sind Anhaltspunkte über die Charakteristik des visuell-poetischen Textes, die mit der im Kapitel 1.1 vorgestellten Definition von Joan Brossa durchaus übereinstimmen. So wird die Vermittlung einer Botschaft ˗ im Sinne Brossas ˗ mehrmals betont, „importante [es] el mensaje“ , schreibt Joaquín Gómez; eine Botschaft, die durch visuelle Gestaltungstechnik den Rezipienten außerdem besonders rasch erreichen soll: „que éste [el lector] pueda entender o al menos intuir el significado del poema con un solo golpe de vista“ (Julián Alonso, Hervorhebung v. d. Verf.). Verstanden werden poemas visuales ferner als Kürzesttexte, so beschreibt Julia Otxoa das poema objeto als „ese lenguaje visual de la brevedad“. Die brevedad wird durch die Kombinationsmöglichkeiten von Schrift, Bild und Gegenstand erreicht, wodurch eine „correspondencia lúdica e irónica de analogías y yuxtaposiciones inesperadas, un tipo de pensamiento combinatorio e iconoclasta“ (Julia Otxoa) erzeugt werden kann. Dabei wird das Visuelle, das Bildliche als vielfache Gestaltungsmöglichkeit erklärt, dazu zählt Francisco Peralto “[…] la forma / + la letra / + el color / + los textos / + la fotografía / + el espacio / + los blancos / + el dibujo / + la caligrafía […]”. Über seine „poesía visual“ erläutert Juan López de Ael „es más bien figurativa en el sentido de ‘hacer ver’ y entender un mensaje“ . Die zur Verfügung stehenden Instrumente, seien es schriftsymbolische, bildliche oder gegenständliche, werden auf eine bestimmte Weise miteinander kombiniert, sodass neue Sinnzusammenhänge und dadurch eine poetische Botschaft entstehen. Bei Juan Rosco Madruga handelt es sich um “la búsqueda de objetos de cuya combinación con otro objeto o contexto, surja la chispa reactiva de la significación”, bei ihm nicht selten mit sozialkritischen Absichten („intención de denuncia social“) verbunden.
Joaquín Gómez sucht weniger die Kritik an der Gesellschaft als das für ihn erstaunliche Ergebnis dekontextualisierter Kombinationen: „es a través de los objetos, las cosas, cuanto más distintos y distantes sean, mayor será el impacto visual en el espectador“. Dekontextualisierung und Kombination sind die Prinzipien der Poesía Visual, insbesondere der poesía objeto (siehe hierzu Kapitel 1.5.4). „Descontextualizar las imágenes” beschreibt Juan José Ruiz Fernández „para darles nuevos significados a través del juego, el humor, la ironía, la crítica […]“. Die imágenes , werden oftmals zufällig angetroffen, denn darin stimmen mehrere Aussagen überein: „Vivimos rodeados de imágenes“ (Juan José Ruiz Fernández). Es gilt sie zu entdecken und daraus poetische Texte zu kreieren, “la realidad que nos rodea nos regala el poema. Sólo hay que verlo” (Francisco Aliseda).
Aus den Beschreibungen der Dichterinnen und Dichter über ihre Beschäftigung mit Poesía Visual lässt sich eine Gemeinsamkeit beobachten: Alle Akteure verbindet eine Art spontane Bereitschaft zur Suche und Entdeckung von Gegenständen, Bildern oder schriftsymbolischen Texten, die dekontextualisiert zu einem neuen, oftmals (aber nicht immer) intendierten Sinn, einer poetischen Botschaft kombiniert werden. Antonio Gómez definiert die Poesía Visual deshalb treffend als eine „poesía espontánea“.
1.4 Das poema visual
1.4.1 Hybrid und Intermedium
Die Poesía Visual wird als hybride und intermediale Gattung definiert, demgemäß das poema visual als Hybrid und Intermedium (vgl. López Fernández 2008, 1). Hauptsächliche Bestandteile der Mischung sind Literatur und bildende Kunst beziehungsweise die medialen Darstellungsformen Schrift und Bild. In der Theorie der Visuellen Poesie ist diesbezüglich von „synthesis of painting and poetry“ (Bohn 1986, 2) respektive „Synthese von Bild und Text“ (Ernst 2002, VII) die Rede.
Aus dem Begriff Hybrid – ein aus Kreuzungen hervorgehendes Produkt – abgeleitet, bedeutet Hybridität Mischung. Angewandt auf künstlerische Artefakte bilden hybride Gattungen, sogenannte Mischformen, neue Kunstformen, die aus der Kombination mindestens zweier unterschiedlicher Medien entstehen (Burdorf et al. 2007, 505). Theoretische Untersuchungen hybrider Gattungen wurden vorwiegend im Kontext der künstlerischen Avantgarden entwickelt, da die Verschmelzung der Künste - wie mehrfach ausgeführt - dort Zielsetzung ist. Im Hinblick auf literarische Werke wird mit Hybridität die Formstruktur des Textes beschrieben, denn in hybriden Texten sind allgemein die charakteristischen Merkmale eines jeden Mediums stets materiell repräsentiert. Das bedeutet, dass die formale Konstitution des hybriden Textes maßgeblich von der materiellen Repräsentation der einzelnen Bestandteile bestimmt wird. Angemessener als die Begriffe Synthese oder Verschmelzung, die vornehmlich den Mechanismus der Zusammensetzung beschreiben, zielt der Begriff Hybridität auf die Komplexität und Vielschichtigkeit der Bestandteile. Es bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die heterogenen Bestandteile vereint existieren, sie nicht mehr präzise voneinander zu trennen sind. Allerdings ist Hybridität in poemas visuales keineswegs nur in der zweigeteilten Kategorie Bild oder Schrift zu betrachten. Vielmehr bedeutet hibridez , im Sinne einer hibridez formal, die Mischung vieler verschiedener sprachlicher (und bildlicher) Elemente:
El poema visual se compone de un lenguaje de lenguajes o, dicho de otro modo, de lenguajes integrados, es decir, lenguajes formados a su vez por sistemas de significación –fotografía, geometría, lenguaje numérico, alfabético, cromático, etc. El significado en un poema visual no opera a partir de la descodificación de un único lenguaje sino de la transcodificación de varios lenguajes y códigos diferentes – cromatismo, geometría, plasticidad, textura, iconos, grafías […]. (López Fernández 2008, 4)
Dennoch ist die Fokussierung auf die Hauptbestandteile, Schrift und Bild, insbesondere aus einer intermedialen Perspektive interessant. Wie kombinieren sich Schrift und Bild im poema visual und wie wirken sie sich gemeinsam auf die Gesamtaussage des Textes aus? Diese Frage, wie sich medial unterschiedliche Künste in einem Gesamtkunstwerk aufeinander beziehen, wie sie dialogieren oder sich gegebenenfalls beeinflussen, wird unter dem Begriff der Intermedialität gefasst. Sie bezeichnet im Allgemeinen die formale oder inhaltliche Bezugnahme medial differenter Künste (vgl. Schmitz-Emans 2007, 355). Durch Hybridisierung verschiedener Künste werden Kunstwerke erzeugt, die von vornherein intermedial sind, so beispielsweise visuelle Gedichte. Dabei wird zwischen intermedialen „Transformations- und Kombinationsprozessen“ (ebd.) unterschieden. Transformation bedeutet entweder die inhaltliche oder formale Übernahme von einem ins andere Medium oder die thematische Referenz eines Mediums auf ein anderes. Kombination bezeichnet dagegen eine Medienmischung – weniger im Sinne einer Verschmelzung als im Sinne einer zusammenwirkenden Darstellung im selben Produkt.
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